Christoph Wolffs Bach-Biografie



 



Johann Sebastian Bach
Gemälde von Haussmann
Von beiden Verlegern als Titelbild verwendet



Mit seiner von Bettina Obrecht (in enger Zusammenarbeit mit ihm) aus dem Amerikanischen übersetzten Bach-Biografie (im Original bei W.W. Norton Publishing, New York, im Januar 2000 und bei S. Fischer im April 2000 erschienen) legt Wolff ein Werk vor, das in seiner gründlichen Erarbeitung eines neuen Bachverständnisses wohl das neue Standardwerk darstellt.

Obwohl Wolffs Sprache für jeden Laien verständlich ist, lohnt es sich zur Orientierung jedoch, den Anhang und das Inhaltsverzeichnis vorher gründlich zu studieren.

So ausgerüstet wird man feststellen, daß Wolff sehr systematisch und immer überschaubar vorgeht. Lassen Sie mich nicht davon sprechen, was dieses Werk nicht ist, sondern davon, was es ist: Eine ausgezeichnete Biografie der Entwicklung des musikalischen Genies und der Entfaltung aller musikalischen Talente Bachs—-das des Tasteninstrumentvirtuosen, Organisten, Orgelfachmanns, Musiklehrers, Komponisten, Dirigenten und Musikdirektors, wie auch der Untertitel der englischen Originalausgabe bestärkt: The Learned Musician – der gelehrte Musiker.

Wolff greift hierin auf Originaldokumente, frühe Aufzeichnungen wie den Nekrolog (von Bach selbst und seinem Sohn C.P.E. Bach verfasst) und Forkels Biografie von 1802 zurück, bezieht auch auf relevante und heute noch gültige Forschungsarbeit Spittas und späterer Autoren mit ein, kann aber selbstverständlich auf seine eigene jahrzentelange Forschungsarbeit zurückgreifen, in der ja wiederum seine vorjährige Entdeckung der Dokumente der Bach-Familie in Kiew einen großen Erfolg verzeichnen konnte..

Über die Verfolgung des musikalischen Familienerbguts, seiner Kindheitsentwicklung in Eisenach, sowie der Ohrdrufer und Lüneburger Jahre baut Wolff sorgfältig vor uns den Grundstock auf, auf dem Bach als Erwachsener seinen eigenen Weg beschreiten konnte.

Auch in der Schilderung seiner Weiterentwicklung als Organist in Arnstadt, Mühlhausen und am Weimarer Hof, seiner dortigen Beförderung zum Konzertmeister, seiner Kapellmeisterzeit in Köthen bis hin in seine Leipziger Tätigkeit als Thomaskantor wird uns Bachs musikalisches Wachstum und Reife klar, systematisch und überschaubar nähergebracht, indem die Entwicklung der Grundvoraussetzung jedes musikalischen Fortschritts folgerichtig dargestellt ist.

Wolff hält sich als ernsthafter Musikwissenschaftler—wohl selbstverständlich—in erster Linie an diese musikalische Entwicklungsgeschichte, in der biografisch-anekdotisches nur insofern herangezogen wird, als es erstens belegbar ist und zweitens relevant. Da im Anhang auch eine ausführliche Zeittafel enthalten ist, bereitet dies bei der Lektüre keine Schwierigkeiten und sorgt dafür, daß die musikalisch-biografische Spannung nicht nachläßt.

So lernen wir sehr mühelos, wie Bach während seiner frühen Erwachsenenjahre (in Arnstadt, Mühlhausen, Weimar und Köthen) zum meisterhaften Komponisten und Musiklehrer heranreifte, der sich auch im oft als “Abstieg” bezeichneten Leipziger Kantoramt immer wieder neuen Herausforderungen aussetzte, wie seinem umfangreichen Kantatenwerk und den Passionskompositionen der 1720er Jahre, und seiner zusätzlichen Tätigkeit als Direktor des Collegium Musicum in den 1730er Jahren.

Wolff argumentiert sehr überzeugend und laienverständlich, daß Bachs “Eigenwilligkeit” in erster Linie aus seinem Streben nach “musicalischer Vollkommenheit” erwuchs und nicht aus sinnloser Halsstarrigkeit.

Erst nach der Beschreibung von Bachs Laufbahn bis 1740 finden wir ein Kapitel zum Familienleben, das mir in seiner faktenrichtigen, jedoch auch taktvollen Darstellung der Einzelheiten nicht weniger gut gefiel als die vorangegangene Musikbiografie.

Diese findet ihren Abschluß durch Wolffs Beschreibung von Bachs letztem Leipziger Jahrzehnt, in der er sein Hauptaugenmerk auf die Entwicklung der Kunst der Fuge und der h-Moll-Messe lenkt.

Eingerahmt ist dieser biografische Kern von Wolffs Vorwort, Prolog und Epilog. Darin weist Wolff auf Bachs Rolle als Zeitgenosse des Physikers Isaac Newton hin und daß in Bach wohl auch der Forschungsgeist- und Drang der Newton’schen Ära, jedoch in musikalischer Weise, ihren Ausdruck fand.

Wem ist dieses Bach sehr gerecht werdende Buch als Lektüre zu empfehlen? Generell allen Freunden der Bach’schen Musik, die sich nicht davor scheuen, ihr vielleicht etwas vergilbtes Bach-Bild auffrischen zu lassen, während ich als Laiin nur hoffen kann, daß alle Fachkreise sich dieses Werk nicht entgehen lassen!

Copyright July 2000
Ingrid Schwaegermann.

Christoph Wolffs Laufbahn als Musikwissenschaftler spricht für sich und ist hier in Stichpunktform angeführt:

1940 in Deutschland geboren; 1963 - 1969: Lehrtätigkeit an der Universität Erlangen, bis 1970 an der Universität von Toronto, bis 1976 an der Columbia University in New York (nebenbei auch Gastprofessuren in Princeton und Basel), ab 1976 als Ordinarius für Musikwissenschaft an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, dort von 1980 - 1988 Vorsitzender der Musikabteilung, 1991 - 1992 kommissarischer Leiter der Universitätsbibliothek, und von 1992 - 2000 Dekan der Graduate School of Arts. Seit 1990 ist er auch Honorarprofessor der Universität Freiburg i.Br., Mitglied des Herausgeberkollegiums der Neuen Bach-Ausgabe, Mitherausgeber des Bach-Jahrbuchs, Vorsitzender des Zentralinstituts für Mozartforschung in Salzburg, seit 1982 ordentliches Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Er erhielt für seine Forschungsarbeit 1978 die Dent-Medaille der Royal Musical Association in London, 1992 den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen und 1996 den Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Als Autor machte er sich durch zahlreiche Editionen und Beiträge zur Bach- und Mozartforschung einen Namen. Einige seiner Werke sind: Bach: Essays on His Life and MusicI (Cambridge 1991, 3/1996), Mozarts Requiem (Kassel 1991, 2/1995), Die Bach-Familie (Stuttgart, 1994), und als Herausgeber: Die Welt der Bach-Kantaten (3 Bände, Stuttgart 19996 - 1999), Die Gegenwart der musikalischen Vergangenheit: Meisterwerke in der Dirigentenwerkstatt (Salzburg 1999), Über Leben, Kunst und Kunstwerke: Aspekte musikalische Biographie (Leipzig 1999) und, gemeinsam mit Reinhold Brinkmann, "Driven into Paradise: The Musical Migration from Nazi Germany to the United States (Berkeley 1999). Es war auch Wolff, der die verschollenen Dokumente der Bach-Familie 1999 in Kiew entdeckte.