BEETHOVENS LETZTE 
BONNER JAHRE
(1787 - 1792)


Aus Beethovens Brief an den Augsburger Rechtsanwalt von Schaden erfahren wir, dass er im Spätsommer und Herbst 1787 intensiv um den Verlust seiner im Juli verstorbenen Mutter trauerte. In diesem Brief geht er auch auf seine Befürchtung ein, selbst an der Schwindsucht zu leiden und beschreibt Symptome wie Kurzatmigkeit und seine Melancholie.  Es ist einerseits nicht sicher, anderersteis aber auch nicht auszuschließen, dass Beethoven wirklich an einer Jungendtuberkulose litt und von seiner Mutter vor ihrem Tod angesteckt wurde.  [Laienmäßig ausgedrückt darf man dazu nachträglich feststellen, dass sie in ihrem letzten Stadium eventuell an offener, also ansteckender, Tuberkulose gelitten haben mag.  Die Medizin spricht auch von verschiedenen Formen dieser Krankheit, wie z.B. Lungen-, Knochen- und Hauttuberkulose, so dass nicht unbedingt 'nur' die Lunge beeinträchtigt wird, sondern vielleicht auch andere Organe und/oder das Nervensystem.  Wer sich weiter für dieses Thema in bezug auf Beethoven interessiert, sollte vielleicht durch einen guten Internetsuchdienst nach einschlägigen Fachtiteln zu diesem Thema suchen.]  Wir sollten daher von einer weiteren Diskussion dieses Themas hier absehen.  Was jedoch aus den biographischen Unterlagen Beethovens hervorgeht ist, dass die Arztkosten für die Behandlung seiner Mutter ein sehr großes Loch ins Familienetat rissen, während Vater Johann van Beethoven nun buchstäblich endgültig auseinanderfiel.  Seine Tenorstimme wurde immer dürftiger und sein Weindurst immer größer.  Beethoven musste daher im Alter von 16 Jahren notgedrungen die Rolle des Familienvorstands übernehmen.  Hier erwies sich der Bonner Hofmusiker und Geiger Franz Anton Ries als wahrer Freund der Familie und unterstützte sie, wo er nur konnte.  Für zwei Jahre versuchte Beethoven auf diese Weise sehr tapfer dafür zu sorgen, dass Essen auf den Tisch kam und die Ausbildung seiner Brüder nicht vernachlässist wurde.  Für den ersten Zweck wurde eine Haushälterin eingestellt.  Beethovens jüngstes, 1786 geborenes Schwesterchen überlebte nach dem Tod seiner Mutter nicht lange und folgte ihr bereits im Herbst 1787 ins Grab.  Sein jüngster Bruder Nikolaus Johannes   begann eine Apothekerlehre, und sein Bruder Caspar Carl wurde zum Klavierlehrer ausgebildet.

Aufgrund der Sachlage, dass aus den Jahren 1787 - 1789 nur wenige Kompositionsskizzen Beethovens erhalten blieben, entwickelte sich die Auffassung, dass Beethoven wohl unter dem Druck der Verhältnisse nicht viel komponierte und vielleicht sogar zu komponieren aufhörte.  Befürworter dieser herkömmlichen Anschauung führen als mögliche Gründe für sein Verhalten an, dass er nicht nur aus äusserer, sondern auch aus innerer Not nicht komponierte.  In seiner Biographie aus dem Jahr 2000 argumentiert Barry Cooper jedoch, dass:

". . . It is, of course, possible that he virtually abandoned composition during this period, for his everyday cares increased considerably, as we shall see, and he is known to have gone through a number of silent phases during his life when he felt unable to commit much to paper. But to be silent for so long, and at such an early age, seems improbable. Far more likely, he simply abandoned or mislaid most of his compositions from this period in later years, and they gradually disappeared. . . . "

(Cooper: 21-22; Cooper argumentiert hier, dass es einerseits durchaus möglich sei, dass Beethoven während dieser zwei Jahre ganz zu komponieren aufgehört hatte, und das möglicherweise aufgrund seiner Familiensorgen, dass er andererseits in seinem weiteren Leben einige 'schaffensarme' Zeiten erlebte, dass es aber andererseits ziemlich unwahrscheinlich sei, dass er in seiner Jugend so lange schöpferisch untätig gewesen sei.  Seiner Meinung nach sei es wahrscheinlicher, dass er seine Projekte dieser Jahre entweder nicht vollendete oder deren Niederschriften verlegte und dass diese daher im Laufe der Jahre abhanden gekommen waren).

[Selbstverständlich äussert Cooper als seriöser Forscher diese Meinung nicht, ohne sie auch zu begründen zu versuchen.  So weist er als 'Gegenbeweis' auf Spuren beethoven'scher Werke aus dieser Zeit hin.  Eines dieser Werke sei eine Skizze mit der Überschrift 'Sinfonia', in der Beethoven bis zum Ende der Exposition gelangt sei.  Cooper schreibt:  "Its date is uncertain, but the handwriting is in a transitional form that strongly suggests it comes from this dark age between 1786 and 1790" (Cooper: 23; Er schreibt hier, dass das Datum dieser Skizze unbestimmt sei, dass aber die Handschrift in einer Übergangsform sei, die stark darauf hinweise, dass diese Skizze aus der Übergangszeit von 1786 bis 1790 stamme; als Quelle seines Fundes weist er auf  'Johnson, Beethoven's Early Sketches, i. 222' hin). Cooper verweist auch auf Beethovens neues Klavierkonzert, das er während dieser Zeit begonnen habe und führt diesen Versuch auf ein einziges Skizzenblatt zurück, dessen Handschrift auch vermuten lasse, dass es aus dieser Zeit stammt (seine Quelle: Johnson, Beethoven's Early Sketches, i. 366; ii. 71-3, aufgeführt in Cooper: 23). Er weist auch auf die Möglichkeit hin, dass diese Skizze später in Beethovens Klavierkonzert Nr. 2, op. 19, zur Verwendung gelangte.  In bezug auf weitere Werke aus dieser Zeit verweist Cooper auf einige Präludien (wie die f-Moll-Präludie, WoO55, und zwei C-Dur-Präludien, op. 39) und ferner auf einige der acht Lieder, die später in Beethovens Liedersammlung, op. 52, integriert wurden (Cooper: 23).}

Während wir in bezug auf dieses Thema hier zu keinen endgültigen Schlüssen gelangen können, können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, dass Beethoven nach dem Tod seiner Mutter eine schmerzliche Trauerzeit durchlitt, während er zur gleichen Zeit seinen Pflichten als Hofmusiker und als Familienvorstand nachzukommen versuchte.  Sein Umgang mit der von Breuning'schen Familie, besonders mit Frau von Breuning, half ihm sicher noch am ehesten über diese Schwierigkeiten hinweg.  In vieler Hinsicht bot ihm Frau von Breuning einen der Situation angemessenen, taktvollen 'Mutterersatz'.  Ihre Familie setzte sich auch für Beethoven ein, als er durch die Verteidigung seines trunksüchtigen Vaters mit der Polizei in Schwierigkeiten geriet, als er dabei einmal selbst vielleicht zu hitzig wurde.

Einen weiteren, treuen Freund und Gönner gewann Beethoven in Graf Waldstein [Cooper siedelt dessen Ankunft in Bonn im Spätjanuar 1788 an (Cooper: 25)], einem österreichischen Adeligen, den Kurfürst Max Franz als Hofbeamten zu sich nach Bonn berufen hatte.  Dieser junge Mann war, die Max Franz, auch ein Mozartfreund.

Im November 1789 hatte sich Johann van Beethovens Zustand so sehr verschlechtert, dass sich Beethoven gezwungen sah, bei Hofe ein Gesuch einzureichen, in dem er um die Auszahlung der Hälte des väterlichen Gehalts an sich bat, um damit unmittelbar für seine Geschwister sorgen zu können.  Diesem Gesuch kam der Hof in folgender Weise nach:

Vielleicht sollten wir diesen Erlass direkt zitieren:

"Ad Sup. des Organisten L. van Beethoven.

Demnach Sr. Kurfürstl. Durchlaucht dem Supplikant in der einvermeldeten Bitte gnädigst willfahren und denselben Vater, der sich in ein kurkölnisches Landstädchen zu begeben hat, von seinen weiteren Diensten hiermit gänzlich dispensieren wollen; mithin mildest verordnen, daß demselben behgehrtermaßen nur einhundert Reichstaler von seinem bisherigen jährlichen Gehalt künftig, und zwar im Anfang des eintretenden neuen Jahrs, ausgezahlt werden, das andere hundert Taler aber seinem suppliziernden Sohn nebst dem bereits genießenden Gehalt von gedachter Zeit an zugelegt sei, ihm auch das Korn zu 3 Malter jährlich, für die Erziehung seiner Geschwistrigen, abgereicht werden soll. Als wird mehrgemeldetem Supplikant gegenwärtige Ausfertigung darüber erteilt, wonach Kurfürstl. Hofkammer das Fernere zu verfügen, und ein jeder, den es angehen mag, sich gehorsamst zu achten hat.

Bonn, den 20. November 1789" (Ley: 43).

Allem Anschein nach wurde der finanzielle Teil dieses Erlasses durchgeführt, während sich jedoch Johann van Beethoven nicht aus Bonn entfernen musste.

Um auf die traditionelle Auffassung zurückzukehren, dass Beethoven während der Jahre 1787 - 1789 zu komponieren aufgehört hatte, könnte in ihrem Sinne argumentiert werden, dass diese Regelung seiner Familienangelegenheiten ihm wieder die nötige Freiheit verschaffte, sich wieder der Komposition zuzuwenden.  Wenn wir jedoch Coopers Argument folgen, dass Beethoven möglicherweise nicht zu komponieren aufhörte, müssten wir einem weiteren, hier in Kürze erwähnten Argument Rechnung tragen.  

Was sicher erscheint ist, dass Beethoven im Winter 1789-1790 sich in verstärktem Maße am kulturellen und geistigen Leben Bonns beteiligte.  Zum einen schrieb er sich mit anderen Freunden als Laienstudent an der Universität ein, zum Anderen verkehrte er auch in der Bonner Lesegesellschaft, in der Graf Waldstein auch Mitglied war. Die Bonner Intellektuellen trafen sich auch im Restaurant  Zehrgarten, das die Witwe Koch betrieb.  Zu diesem Restaurant gehörte auch eine Buchhandlung.  In seinen Pflichten als Hofmusiker hatte Beethoven nicht nur als Hilfsorganist zu dienen, sondern auch als Bratschist des Hoforchesters der wiedereröffneten Bonner Oper. 

Was sicher als Beethovens wichtigste Komposition des Jahres 1790 betrachtet werden kann, führt uns zu Coopers Argument zurück, dass Beethoven zwischen 1787 und 1789 nicht zu komponieren aufgehört hatte.  

Der Tod Kaiser Josephs II veranlasste die Bonner Lesegesellschaft, Beethoven mit der Komposition einer Trauerkantate zu beauftragen.  In bezug auf diesen Auftrag argumentiert Cooper:

"The choice of composer is significant, for it provides further evidence that his talent had been recognized, and that he must therefore have written far more in the previous three years than now survives, for otherwise someone else such as Neefe or Reicha would surely have been chosen"

(Cooper: 27; Cooper argumentiert hier, dass der Wahl des Komponisten Bedeutung zuzumessen sei, da dies als weiterer Beweis dafür gelten könne, dass Beethovens Talent anerkannt worden sei und dass er daher in den Jahren 1787 - 1789 mehr komponiert haben muss als uns überliefert ist, da er sonst kaum dafür in Frage gekommen sei, sondern Neefe oder Reicha damit beauftragt worden wären).

Beethoven konnte diese Kantate jedoch nicht rechtzweitig fertigstellen.  Wie Musikwissenschaftler erklären, fand Beethoven hier eine Gelegenheit, seiner persönlichen Trauer um den Tod seiner Mutter in einem öffentlichen Werk in Form der Trauer um einen aufgeklärten Herrscher Ausdruck zu verleihen.  Beethoven schrieb 1790 auch eine Kantate zur Krönung des neuen Kaisers, Leopold II. 

Beethovens Freundschaft mit Graf Waldstein führte zu einem der Werke, das er in der Saison von 1790/1791 schrieb, nämlich das Ritterballett, das Waldstein wohl mit seiner Zustimmung als sein Werk ausgeben konnte, und das im Karneval aufgeführt wurde.  In ihm wurden das mittelalterliche Ritterleben und die Jagd verherrlicht.

Der Spätsommer des Jahres 1791 brachte für Beethoven eine Reise, an die er sich später sehr gerne erinnerte.  Als Großmeister des Deutschherrenordens hatte Kurfürst Max Franz über deren Sitzung in Mergentheim am Main zu präsidieren.

Seine Musiker folgten ihm in zwei Schiffen rhein- und main- aufwärts.  Auf Beethovens Schiff übernahmen die Musiker auch die Küchenpflichten.  In Rüdesheim erhielt Beethoven ein "Diplom" für seine heldenhaften Bemühungen, das er laut Wegelers Bericht in den Biograpischen Notizen selbst in seinen frühren Wiener Jahren noch sorgfältig aufgewahrte.  In Mergentheim übten die Musiker auch eine von Beethovens Kaiserkantaten ein, konnten aber deren Schwierigkeiten nicht meistern, so dass das Werk nicht zur Aufführung gelangte.  

Während eines Zwischenaufenthalts in Aschaffenburg lernte Beethoven den damals berühmten Pianisten, Abbé Sterkel, kennen.  Nikolaus Simrock berichtete darüber:

"Ich erinnere mich, daß mehrere der Kurfürstlichen Hofmusik bei unserer Durchreise in Aschaffenburg schicklich fanden, den Herrn Kapellmeister Sterkel zu besuchen und Beethoven mit ihm bekannt zu machen. Wir wurden sehr freundschaftlich aufgenommen, und nach einigen Höflichkeiten war der Herr Kapellmeister so gefällig, uns eine seiner Sonaten mit Violinbegleitung vorzutragen, in seinem eigenen, zierlichen, sehr gefälligen Spiel. Darauf ersuchte er Beethoven, zu spielen, und wünschte besonders seine unlängst in Mainz gestochenen Variationen über das Thema von Righini "Vieni amore" von ihm selbst spielen zu hören: daß er gestehe, sie seien ihm zu schwer, er könne sie nicht spielen--darauf suchte Herr Sterkel in einem Pack Musik, konnte aber das Exemplar nicht finden; wir hatten nun etwas Mühe, Beethoven zu bewegen, daß er solche auswending spielen möge. Es schien uns allen, Herr Kapellmeister glaubte, Beethoven habe sie zwar geschrieben, könne sie aber vielleicht selbst nicht spielen. Dies bemerkte Beethoven selbst. Nun setzte er sich und spielte sie zum Erstaunen der gegenwärtigen Böhmischen, die ihn noch nie so gehört, ganz in der Manier des Herrn Kapellmeisters mit der größten Zier und brillanten Leichtigkeit, als seien diese schweren Variationen wirklich ebenso leicht wie eine Sterkelsche Sonate, und hängte hieran noch ein paar ganz neue! Herr Kapellmeister war in seinem Lobe unerschöpflich und verlangte durchaus, daß wir bei der Rückkehr ihn wieder besuchen möchten, was aber der Eile wegen nicht geschah" (Ley: 52-53.)

In bezug auf diese Reise erinnerte sich Simrock auch noch an ein anderes Ereignis, das uns hier zum erstenmal relevant mit dem Thema Beethoven und die Frauen in Berührung bringt.  Lassen wir aber erst Simrock berichten:

"An einem Orte, wo die Gesellschaft unterwegs zu Mittag aß, stachelten einige der jungen Leute das Aufwartemädchen an, seine Reize Beethoven gegenüber geltend zu machen. Beethoven nahm seine Herausforderungen mit zurckweisender Kälte auf, und als es, von den anderen ermutigt, nicht abließ, verlor der die Geduld und machte seinen Zudringlichkeiten schließlich durch eine Ohrfeige ein Ende . . . " (Ley: 52).

In diesem Zusammenhang bietet sich ein Blick auf Wegelers diesbezügliche Bonner Erinnerungen an seinen Freund an:

"Beethovens und Stephan von Breunings erste Liebe war Fräulein Jeannette d'Honrath aus Köln, die oft einige Wochen in der Breuningschen Familie in Bonn verbrachte. Sie war eine schöne, lebhafte Blondine von gefälliger Bildung und freundlicher Gesinnung, welche viel Freude an der Musik und eine angenehme Stimme hatte. So neckte sie unsern Freund mehrmals durch den Vortrag eines damals bekannten Liedes:

"Mich heute noch von dir zu trennen
Und dieses nicht verhindern können,
Ist zu empfindlich für mein Herz!

. . . Darauf folgte die liebevollste Zuneigung zu einem schönen und artigen Fräulein v. W[esterholt] . . . Diese Liebschaften fielen jedoch in das Übergangsalter und hinterließen ebensowenig tiefe Eindrücke, als sie deren bei den Schönen erweckt hatten" (Ley: 43 - 44)

Demhingegen soll sich laut Wegelers Bericht zwischen Eleonore von Breuning und Beethoven nur eine sehr herzliche Freundschaft entwickelt haben.

Als Haydn im Sommer 1792 aus England zurückkehrte, machte er auch in Bonn Halt (Cooper: 38). 

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Beethoven ihm bei dieser Gelegenheit seinen Kaiserkantaten vorlegte und dass sich aufgrund seines Treffens mit Haydn der Plan entwickelte, nach Wien zu gehen und dort sein Kompositionsschüler zu werden.  Dieser Plan wurde bereits im Herbst 1792 in die Tat umgesetzt.  Wie es damals üblich war, trugen sich Beethovens Freunde in sein Abschiedsalbum ein.  Aus der Datierung dieser Einträge läßt sich der Schluss ziehen, dass er Bonn zwischen dem ersten und dritten November verließ.  Werfen wir doch einen Blick auf das Faksimile des Eintrags von Graf Waldstein:

 


"Lieber Beethoven!  Sie reisen itzt nach Wien zur Erfüllung Ihrer so lange bestrittenen Wünsche.  Mozarts Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglings.  Bei dem unerschöpflichen Haydn fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemandem vereinigt zu werden.  Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie:  Mozarts Geist aus Haydns Händen.  Ihr wahrer Freund Waldstein"  (Ley:  58 - 59).