ANFECHTUNGEN  UND HERAUSFORDERUNGEN
(1815 - 1820)



Über die Bedeutung des Zeitpunkts, an dem Beethoven den ersten Liederzyklus der Musikgeschichte, An die Ferne Geliebte, komponierte (er begann ihn im Herbst 1815 und hatte ihn im April 1816 vollendet), sind sich auch Musikwissenschaftler noch nicht einig geworden.  Hier können wir vielleicht so weit gehen zu bedenken, dass ihm die Abreise Gräfin Erdödys aus Wien und das damit verbundene Ausscheiden eines positiven weiblichen Einflusses in seinem Leben  den äußeren Anlass dazu bot, hatte er sich doch in seinem jetzigen Alltag mit ganz anderen Dingen zu beschäftigen.

Diese 'anderen Dinge' bestanden hauptsächlich aus seinem Kampf um das alleinige Sorgerecht für seinen Neffen Carl van Beethoven.  Wie wir uns aus dem letzten Abschnitt erinnern, hatte sein Bruder dieses ihm und Johanna van Beethoven gemeinsam erteilt.  Daher legte Beethoven am 20. November 1815 einen diesbezüglichen Einspruch beim Landrecht ein, dem am 9. Januar stattgegeben wurde.  Beethoven leistete seinen Vormundseid am 10. Januar 1816.

Im Februar brachte er Carl in der Wiener Internatsschule von Cajetan Giannatasio del Rio unter und pflegte auch einen intensiven Umgang mit den Giannatasios, um Carl nahe zu sein und sein dortiges Einleben und seine schulischen Erfolge überblicken zu können.  Das Tagebuch der ältesten Tochter des Hauses, Fanny Giannatasio del Rio, bietet uns eine interessante Informationsquelle.  Sie hatte vor Kurzem den Tod ihres Verlobten zu beklagen und richtete nunmehr ihr Interesse auf Beethoven.  Er hingegen versuchte, sie durch sein ernsthaftes Benehmen ihr gegenüber zu entmutigen und bedachte sie mit dem 'Ehrentitel' einer 'Mutter Oberin'.


 


Carl van Beethoven

Der ehemalige Schüler Beethovens, Ferdinand Ries, lebte nun in London und übernahm dort auch das Ehrenamt als Vermittler zwischen Beethoven und seinen Londoner Kontakten.  Diese Zeit sah eine rege Korrespondenz zwischen Beethoven und Birchall, Sir Charles Smart und Mr. Neate mit dem hauptsächlichen Ziel, die dortige Philharmonic Society zum Ankauf seiner Werke zu bewegen.  Leider wurden die Engländer insofern enttäuscht, als Beethoven ihnen zu dieser Zeit nur Gelegenheitswerke  wie Ouverturen bieten konnte.  Vielleicht lag Beethoven zu dieser Zeit einiges daran, auch diese Werke so gewinnträchtig wie möglich zu vermarkten, um durch deren Erfräge zum Unterhalt seines Neffen mit beitragen zu können.

Dieser Zeitpunkt in Beethovens Leben bietet uns eine angemessene Gelegenheit, uns Gedanken über die Verlangsamung seiner kompositorischen Tätigkeit zu machen, die bereits während seiner Trauerphase um den Verlust seiner Unsterblichen Geliebten begonnen hatte.  Die Tatsache, dass sich sein Gehör nach den Ereignissen des Sommers 1812 entscheidend verschlechtert hatte und die emotionale Auswirkung dieser Ereignisse mögen vielleicht in ihrer Weise genauso dazu beigetragen haben wie vom Herbst 1815 an seine Sorge um die Vormundschaft über seinen Neffen.  Solomon argumentiert ausserdem, dass Beethoven sich auf künstlerischer Ebene durch das Ende der napoleonischen Ära und den politischen Umschwung nach dem Wiener Kongress nicht mehr in der Lage sah, die Möglichkeiten seines sogenannten heroischen Stils der Jahre 1803 - 1815 weiter auszubauen.

Den Sommer des Jahres 1816 verbrachte Beethoven in Baden bei Wien.  Nach seiner Rückkehr nach Wien im Herbst 1816 versuchte er, seine häuslichen Verhältnisse so umzugestalten, dass er Carl bei sich zuhause aufnehmen konnte.  Aufgrund seiner ständigen Dienstbotenprobleme wurde jedoch aus diesen Plänen nichts.  Carl blieb in der Internatsschule der Giannatasios.

Dass Beethoven auch inmitten dieser Probleme die Komposition nicht ganz aufgab, beweist das Entstehen der Klaviersonate, op. 101, der sogenannten Ertmann-Sonate.  Die biographische Überlieferung hält gerne an dem Glauben fest, dass die schöpferische Quelle dieses Werks ein trauriges Erlebnis dieser Beethovenfreundin, nämlich der Verlust ihres Kindes, gewesen sein mag.  Leider kann diese Überlieferung jedoch nicht durch eindeutige Beweise bestätigt werden.  Diese Überlieferung nahm an, dass Baronin Ertmann Beethoven in ihrem Schmerz aufgesucht hatte und dass er sie mit seiner Musik tröstete.

Während des Winters 1816/1817 litt Beethoven an den Nachwirkungen einer ernsthaften Erkältung, die er im Oktober 1816 hatte.  Diese Wintermonate waren auch durch seine Verhandlungen mit Johanna van Beethoven in bezug auf ihren finanziellen Beitrag zur schulischen Ausbildung ihres Sohnes bestimmt.

Den Sommer 1817 verbrachte Beethoven in Nußdorf. In seinem Brief vom 9. Juni 1817 übermittelte Ferdinand Ries an Beethoven die Einladung der Philharmonic Society in London für den kommenten Winter.  Beethoven sollte dafür zwei Symphonien schreiben. Verhandlungen fanden statt, waren aber leider wieder ergebnislos.  Anstatt der aus London bestellten Symphonien begann Beethoven mit der Komposition seiner nächsten Klaviersonate, op. 106, der Hammerklaviersonate.  Unter ihren Skizzen befanden sich auch Enfwürfe zum Scherzo der späteren Neunten Symphonie.

Einer der Gründe, warum Beethoven zögerte-- trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen--, nach England zu reisen, mag wohl mit seinem zunehmenden Gehörverlust zusammengehangen haben.  Thayer (690) erwähnt Czernys Kommentar, dass Beethoven im Jahr 1817 keine Musik mehr hören konnte.  Als Beweis dafür mag uns Beethovens Brief vom 7. Juli 1817 an Frau Nanette Streicher dienen, in dem er sie bat, ihren Gatten um folgenden Gefallen zu bitten:

" . . . Nun eine große Bitte an Streicher; bitten Sie ihn in meinem Namen, daß er die Gefälligkeit hat, mir eines Ihrer Pianos mehr nach meinem schwachen Gehörzu richten; so stark als es nur immer möglich ist, brauch' ich's. . . ." (Schmidt, Beethoven=Briefe: 118)

Mälzel kehrte zu dieser Zeit auch nach Wien zurück, um positive Kommentare für sein Metronom zu erhalten.  Die Gerichtsverhandlung zwischen ihm und Beethoven endete nun in einem gütlichen Vergleich.  Beethoven war danach auch einer derjenigen, die sich für Mälzels Metronom einsetzten.

Beethoven's Schreiben vom 1. November 1817 an die Giannatasios weist darauf hin, dass er Carl nun zu sich nehmen wollte.

Im Winter 1818 erhielt Beethoven von seinen Freunden aus London ein Broadwood-Piano zugesandt, wofür er sich mit seinem Brief vom 3. Februar (in französischer Sprache) bedankte. Stumpff aus London stimmte das Klavier für ihn, als er sich 1818 in Wien aufhielt.  Thayer berichtet, dass dieses Klavier nach Beethovens Tod vom Musikverleger Spina für 181 Gulden erworben wurde, dass Spina es Liszt zum Geschenk machte und dass es bis zu seinem Tod im Jahr 1886 im gemeinsamen Weimarer Domizi  (der 'Altenburg) Liszts und Fürstin Sayn-Wittgensteins, aufbewahrt wurde.  Im Jahr 1887 habe es dann die Tochter der Fürstin dem Ungarischen Nationalmuseum in Budapest zum Geschenk gemacht (Thayer: 696).

Carl sollte die Giannatasio'sche Internatsschule Ende January 1818 verlassen.  Beethoven stellte einen Hauslehrer für ihn ein, der ihn auf die Aufnahmeprüfungen für das Gymnasium vorbereiten sollte.  Dieses Experiment war jedoch nicht sehr erfolgreich.

In bezug auf Beethovens Gehörzustand ist zu berichten, dass er sich vom März 1818 mit seinen Gästen an nur noch mit Hilfe der Kommunikationshefte verständigen konnte.

Beethoven verbrachte den Sommer in Mödling und verließ Wien am 17. Mai mit Karl.  Johanna van Beethoven bestach jedoch Beethovens Dienstpersonal, damit sie ihren Sohn sehen konnte.  Carl besuchte für den Rest dieses Schuljahres die Dorfklasse von Pfarrer Fröhlich.

August Kloeber, ein junger Breslauer Maler, der in Wien studierte, brachte Beethoven dazu, dass er für ihn in Mödling Modell saß. Das Gemälde hat leider nicht überlebt.  Kloebers Kohlezeichnung wurde jedoch zum am häufigsten abgebildeten Portrait Beethovens.


 


Beethoven-Skizze von Kloeber

Johanna van Beethoven reichte beim Landrecht eine Klage um das Sorgerecht für ihren Sohn Carl ein.  Diese Klage wurde zunächst vom Landrecht am 18. September abgewiesen.  Zu dieser Zeit war Carl Schüler der Gymnasialunterstufe.  Beethoven begann, wieder mit den Giannatasios Umgang zu pflegen.  Aus Fanny Giannatasios Tagebucheintragungen erfahren wir, dass Carl zwischen dem 3. und 5. Dezember Beethoven davonlief, nämlich zu seiner Mutter. Mit Hilfe der Giannatasios wurde Carl durch die Polizei zu Beethoven zurückgebracht.  Johanna van Beethoven reichte am 11. Dezember bei Gericht eine erneute Klage um das Sorgerecht über Carl ein.  Das Landrecht wies die Klage am 18. Dezember an den Magistrat weiter, da sich herausstellte, dass Beethoven nicht dem Adel angehörte (wie das 'van' in seinem Namen die Wiener oft Glauben machte und wozu sich Beethoven bisher nicht klärend geäussert hatte).

Beethoven stellte seine Klaviersonate op. 106 im Jahr 1818 fertig und arbeitete auch wieder an seiner Neunten Symphonie.  Seine Notizen vom Sommer 1818 in Mödling weisen auch erste Gedanken zu einer neuen Messe auf.  Wir sollten dies hier zitieren, um uns einen Eindruck davon zu verschaffen, was in Beethovens innerem Leben im Gegensatz zu seinem äußeren Leben vorging:

"Um Kirchenmusik zu schreiben . . . sehe Dir alle Kirchenchoräle an und auch die Strophen in ihren genauesten Widergaben und der perfekten Prodosie in allen christlichen, katholischen Psalmen und Hymnen im allgemeinen."

"Opfere wieder alle die Nichtigkeiten des Gesellschaftslebens Deiner Kunst.  O Gott, über allen Dingen!  Es ist doch die ewige Vorsehung, die allmächtig das gute und böse Geschick der Menschen lenkt."

"Ruhig will ich mich allen Herausforderungen stellen und mein alleiniges Vertrauen auf Deine unveränderliche Güte lenken, o Gott!  Meine Seele soll Dir in Deinem treuen Diener frohlocken.  Sei mein Fels, mein Licht und auf ewig meine Stütze!"  (Rückübersetzt ausThayer: 715).

In bezug auf die neue Messe bot sich 1819 eine praktische Gelegenheit zu deren Komposition.  Erzherzog Rudolph wurde zum Erzbischof von Olmütz ernannt.  Seine feierliche Einsetzung sollte am 20. März 1820 stattfinden.  In seinem Brief von Anfang Juni 1819 gratulierte Beethoven dem Erzherzog und erklärte, dass er die neue Messe für diese festliche Gelegenheit fertiggestellt haben wollte.  Er hatte bereits im Herbst 1818 mit den ersten Entwürfen zu dieser Messe begonnen, und weitere Vorarbeiten waren bereits Anfang 1819 im Gang.

Anfang 1819 setzte der Magistrat Beethovens Vormundschaft über seinen Neffen Carl ausser Kraft, der sich dann für einige Wochen bei seiner Mutter aufhielt.  Am 11. Februar 1819 reichte Beethoven beim Magistrat seine schritliche Eingabe in bezug auf seine Pläne für die Erziehung und Ausbildung Carls ein.  Ende März wurde es jedoch als klug erachtet, dass Beethoven seine Vormundschaft zumindest vorübergehend niederlegen sollte.  Am 26. März ernannte der Magistrat den Rat von Tuscher als Carls Vormund (Thayer: 722).

Beethoven ging am 12. Mai nach Mödling.. Carl wurde im Institut Blöchlingers untergebracht, einem Anhänger der Erziehungsmethoden Pestalozzis.  Am 5. Juli beantragte von Tuscher, von seiner Vormundschaft über Carl befreit zu werden.  Am 17. September erteilte der Magistrat Johanna van Beethoven das Sorgerecht über ihren Sohn, während der städtische Angestellte Nussboeck zum Mitvormund ernannt wurde.  Am 4. November lehnte der Magistrat Beethovens Einspruch gegen diese Entscheidung ab und veröffentlichte seinen Erlass am 20. Dezember 1819.

In bezug auf musikalische Ereignisse in Beethovens Leben kann berichtet werden, dass er am 17. Januar 1820 als Dirigent eines Benefizkonzerts für die Witwen und Waisen der Angestellten der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien auftrat, dass er von der Philharmonischen Gesellschaft in Laibach (heute: Ljubljana, Slowenien) zum Ehrenmitglied ernannt wurde, und am 1. Oktober auch zum Ehrenmitglied der Merkantilen Vereinigung.  Ferdinand Schimon malte sein Porträt, während er an der Missa Solemnis arbeitete. 


 


Beethoven-Porträt von Schimon

 

Im Oktober kehrte Beethoven nach Wien zurück.  Das Jahr über hatte er an der Messe, mit gelegentlichen 'Abstechern' in die Neunte Symphonie, gearbeitet, aber auch an den ersten Entwürfen zu den sogenannten Diabelli-Variationen.

Gegen Ende des Jahres traf auch Beethovens gute Freundin, Gräfin Erdödy, wieder in Wien ein.  Ihr Personal wurde von der Polizei in bezug auf den Tod ihres Sohnes August im Jahr 1816 befragt.  Diese Intrigen wurden von der Schwester ihres Gatten, Graf Erdödy, initiiert.

Die Verhandlungen um die Vormundschaft über Carl van Beethoven zogen sich auch vom Jahr 1819 ins Jahr 1820 hinein.  Am 7. Januar reichte Beethoven beim Berufungsgericht seine Eingabe ein. Aufgrund seines "etwas schlechten Gehörs" beantragte er die Ernennung eines Mitvormunds.  Er schlug dafür Herrn Peters, den Privatlehrer der Kinder von Fürst Lobkowitz vor.  Ein Teil seiner Eingabe lautet wie folgt:

" . . . Mein Wille und mein Streben geht nur dahin, daß der Knabe die bestmögliche Erziehung erhalte, da seine Anlagen zu den frohesten Hoffnungen berechtigen, und daß die Erwartung in Erfüllung gehen möge, die sein sel. Vater auf meine Bruderliebe baute.  Noch ist der Stamm biegsam, aber wird noch eine Zeit versäumt, so entwächst er in krummer Richtung der Hand des bildenden Gärtners, und die gerade Haltung und Wissenschaft und Charakter sind für ewig verloren.  .Ich kenne keine heiligere Pflicht als die der Obsorge bei der Erziehung und Bildung eines Kindes.  Nur darin kann die Pflicht der Obervormundschaft bestehen, das Gute zu würdigen und das Zweckmäßige zu verfügen:  Nur dann hat sie das Wohl des Pupillen [Mündels] ihrer eifrigen Aufmerksamtkeit gewidmet.  Das Gute aber zu hindern, hat sie ihre Pflicht sogar übersehen ... " (Ludwig van Beethoven In Briefen und Lebensdokumenten:  116).

Am 8. April entschied das Berufungsgericht zu Beethovens Gunsten, und Peters wurde zum Mitvormund ernannt.  Johannas Einspruch beim Kaiser gegen diese Entscheidung schlug fehl.  Der Magistrat gab schliesslich die endgültige Entscheidung bekannt.

Diese sich so lange hinziehenden Verhandlungen mögen Beethoven vielleicht daran gehindert haben, mit der Komposition seiner großen Messe weiterzukommen.  Diese war für die Einsetzungsfeier am 20. März 1820 nicht fertig.  Beethoven setzte seine Arbeit daran jedoch fort.  Etwa zur gleichen Zeit können wir die ersten Versuche Beethovens beobachten, dieses Werk zu vermarkten.  Er schrieb in dieser Angelegenheit an den Bonner Musikverleger Nikolaus Simrock.

Beethoven verbrachte den Sommer wieder in Mödling. Zusätzlich zu seiner großen Messe bereitete er nun auch seine Arbeit an seinen letzten Klaviersonaten, op. 109 - 111, vor.  Die Komposition von op. 109 gehört eindeutig ins Jahr 1820.  Er widmete dieses Werk Antonie Brentanos Tochter Maximiliane.  Beethoven machte sich offensichtlich auch Gedanken in bezug auf die Veröffentlichung seiner gesammelten Werke. Berichten zufolge soll er dies mit seinen Freunden diskutiert haben.

Der Abschluss der Vormundschaftsverhandlungen erlaubte es Beethoven, seine Aufmerksamkeit wieder mehr auf seine Kompositionen zu lenken.  Die Ergebnisse dieser Entwicklung werden wir im nächsten Abschnitt betrachten.