Robert Schumanns Artikel zu Schuberts C-Dur Symphonie




 

Robert Schumann




Der Musiker, der zum erstenmal Wien besucht, mag sich wohl eine Weile lang an dem festilichen Rauschen in den Straßen ergötzen können und oft und verwundernd immer vor dem Stephansturme stehen geblieben sein; bald aber wird er daran erinnert, wie unweit der Stadt ein Kirchhof liegt, ihm wichtiger als alles, was die Stadt sonst an Sehenswürdigem hat, wo zwei der herrlichsten seiner Kunst nur wenige Schritte voneinander ruhen. So mag denn, wie ich, schon mancher junge Musiker bald nach den ersten geräuschvollen Tagen hinausgewandert sein zum Währinger Kirchhof, auf jenen Gräbern ein Blumenopfer niederzulegen, und wär' es ein wilder Rosenstrauch, wie ich ihn an Beethovens Grab hingepflanzt fand. Franz Schuberts Ruhestätte war ungeschmückt. So war endlich ein heißer Wunsch meines Lebens in Erfüllung gegangen, und ich betrachtete mir lange die beiden heiligen Gräber...

 

Währinger Friedhof


Einem großen Mann zum erstenmal ins Angesicht zu schauen, seine Hand zu fassen, gehört wohl zu jedes ersehntesten Augenblicken. War es mir nicht vergönnt, jene beiden Künstler im Leben begrüßen zu dürfen, die ich am höchsten verehrte unter den neueren Künstlern, so hätte ich nach jenem Gräberbesuch so gern wenigstens jemanden zur Seite gehabt, der einem von ihnen näher gestanden, und am liebsten, dachte ich mir, einen ihrer Brüder.  Es fiel mir ein auf dem Zuhausewege, daß ja Schuberts Bruder Ferdinand noch lebe, auf den er, wie ich wußte, große Stücke gehalten.  Bald suchte ich ihn auf und fand ihn seinem Bruder ähnlich, wie mir nach der Büste schien, die neben Schuberts Grabe steht, mehr klein, aber kräftig gebaut, Ehrlichkeit wie Musik gleichviel im Ausdruck des Gesichts.  Er kannte mich aus meiner Verehrung für seinen Bruder, wie ich sie oft öffentlich ausgesprochen, und erzählte und zeigte mir vieles, wovon auch früher unter der Überschrift "Reliquien" mit seiner Bewilligung in der Zeitschrift mitgeteilt wurde.  Zuletzt ließ er mich auch von den Schätzen sehen, die sich noch von Franz Schuberts Kompositionen in seinen Händen befinden. Der Reichtum, hier aufgehäuft lag, machte mich freudeschauernd; wo zuerst hingreifen, aufhören? Unter anderen wies er mir die Partituren mehrerer Symphonien, von denen viele gar nicht gehört worden sind, ja, oft vorgenommen, als zu schwierig und schwülstig zurückgelegt wurden.  Man muß Wien kennen, die eigenen Konzertverhältnisse, die Schwierigkeiten, die Mittel zu größeren Aufführungen zusammenzufügen, um es zu verzeihen, daß man da, wo Schubert gelebt und gewirkt, außer seinen Liedern von seinen größeren Instrumentalwerken wenig oder nichts zu hören bekommt. Wer weiß, wie lange auch die Symphonie, von der wir heute sprechen, verstaubt im Dunkel liegen geblieben wäre, hätte ich mich nicht bald  mit Ferdinand Sch. verständigt, sie nach Leipzig zu schicken an die Direktion der Gewandhauskonzerte oder an den Künstler selbst, der sie leitet, dessen feinem Blicke ja kaum schüchtern aufknospende Schönheit entgeht, geschweige denn so offenkundige, meisterhaft strahlende. So ging es in Erfüllung. Die Symphonie kam an, wurde gehört, verstanden, wieder gehört und freudig, beinahe allgemein bewundert...

Sag' ich es gleich offen: wer die Symphonie nicht kennt, kennt noch wenig von Schubert, und dies mag nach dem, was Schubert bereits der Kunst geschenkt, allerdings als ein kaum glaubliches Lob angesehen werden. Es ist so oft und zum Verdruß der Komponisten gesagt worden, "nach Beethoven abzustehen von symphonischen Plänen", und zum Teil auch wahr, daß außer einzelnen bedeutenderen Orchesterwerken, die aber immer mehr zur Beurteilung des Bildungsganges ihrer Komponisten von Interesse waren, einen entschiedenen Einlfuß aber auf die Masse, wie auf das Fortschreiten der Gattung nicht übten, das meiste andere nur mattes Spiegelbild Beethovenscher Weisen waren, jener lahmen langweiligen Symphonienmacher nicht zu gedenken, die Puder und Perücken von Haydn und Mozart passabel nachzuschaffen die Kraft hatten, aber ohne die dazugehörigen Köpfe. Berlioz gehört Frankreich an und wird nur als interessanter Ausländer und Tollkopf zuweilen genannt. Wie ich geahnt und gehofft hatte, und mancher veilleicht mit mir, daß Schubert, der formenfest, phantasiereich und vielseitig sich schon in so vielen anderen Gattungen zeigt, auch die Symphonie von seiner Seite packen, daß er die Stelle treffen würde, von der ihr und durch sie der Masse beizukommen, ist nun in herrlichster Weise eingetroffen. Gewiß hat er auch nicht daran gedacht, die neunte Symphonie von Beethoven fortsetzen zu wollen, sondern, ein fleißigster Künstler, schuf er unausgesetzt aus sich heraus, eine Symphonie nach der anderen, und daß jetzt die Welt gleich seine siebente zu sehen bekommt, ohne der Entwicklung zugesehen zu haben und ihre Vorgängerinnen zu kennen, ist vielleicht das Einzige, was bei ihrer Veröffentlichung leid tun könnte, was auch selbst zum Mißverstehen des Werkes Anlaß geben wird.  Vielleicht daß auch von den anderen bald der Riegel gezogen wird; die kleinste darunter wird noch immer ihre Franz Schubertsche Bedeutung haben; ja die Wiener Symphonieausschreiber hätten das Lorbeer, der ihnen nötig war, gar nicht so weit zu suchen brauchen, da er siebenfach in Ferdinand Schuberts Studierstübchen in einer Vorstadt Wiens übereinander lag.  Hier war einmal ein würdiger Kranz zu verschenken.

So ist's oft: spricht man in Wien z.B. von ---, so wissen sie des Preisens ihres Franz Schuberts kein Ende; sind sie aber unter sich, so gilt ihnen weder der eine noch der andere etwas Besonderes.  Wie dem sei, erlaben wir uns nun an der Fülle Geistes, die aus diesem kostbaren Werke quillt.  Es ist wahr, dies Wien mit seinem Stephansturm, seinen schönen Frauen, seinem öffentlichen Gepränge, und wie es, von der Donau mit unzähligen Bändern umgürtet, sich in die blühende Ebene hinsteckt, die nach und nach zu immer höherem Gebirge aufsteigt, dies Wien mit all' seinen Erinnerungen an die größten deutschen Meister, muß der Phantasie des Musikers ein fruchtbares Erdreich sein.  Oft, wenn ich es von den Gebirgshöhen betrachtete, kam mir's in den Sinn, wie nach jener fernen Alpenreihe wohl manchmal Beethovens Auge unstät hinübergeschweift, wie Mozart träumerisch oft den Lauf der Donau, die überall in Busch und Wald zu verschwimmen scheint, verfolgt haben mag und Vater Haydn wohl oft den Stephansturm sich beschaut, den Kopf schüttelnd über so schwindlige Höhe.  Die Bilder der Donau, des Stephansturms und des fernen Alpengebirges zusammengedrängt und mit einem leisen katholischen Weihrauchduft überzogen, und man hat eines von Wien; und steht nun vollends die reizende Landschaft lebendig vor uns, so werden wohl auch Saiten rege, die sonst nimmer in uns angeklungen haben würden.  Bei der Symphonie von Schubert, dem hellen, blühenden, romantischen Leben darin, taucht mir heute die Stadt deutlicher als je wieder auf, wird es mir wieder recht klar, wie gerade in dieser Umgebung solche Werke geboren werden können.

 

Blick auf den Stephansdom in Wien


Ich will nicht versuchen, der Symphonie eine Folie zu geben, die verschiedenen Lebensalter wählen zu verschieden in ihren Text-und Bilderunterlagen; der achtzehnjährige Jüngling hört oft eine Weltbegebenheit aus der Musik heraus, wo der Mann nur ein Landesreignis sieht, während der Musiker weder an das eine noch an das andere gedacht hat und eben nur seine beste Musik gab, die er auf dem Herzen hatte.  Aber daß die Außenwelt, wie sie heute strahlt, morgen dunkelt, oft hineingreift in das Innere des Dichters und Musikers, das wolle man nur auch glauben, und daß in dieser Symphnie mehr als ein bloßer schöner Gesang, mehr als ein bloßes Leid und Freud', wie es die Musik schon hundertfältig ausgesprochen, verborgen liegt, ja daß sie uns in eine Region führt, wo wir vorher gewesen zu sein uns nirgends erinnern könen, dies zuzugeben, höre man solche Symphonie.  Hier ist, außer meisterlicher musikalischer Technik der Komposition, noch Leben in allen Fasern, Kolorit bis in die feinste Abstufung, Bedeutung überall, schärfster Ausdruck des Einzelnen, und über das Ganze endlich eine Romantik ausgegossen, wie man sie schon anderswoher an Franz Schubert kennt.  Und diese himmlische Länge der Symphonie, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, der auch niemals endigen kann und aus den besten Gründen zwar, um auch den Leser hinterher nachschaffen zu lassen.  Wie erlabt dies, dies Gefühl von Reichtum überall, während man bei anderen immer das Ende fürchten muß und so oft betrübt wird, getäuscht zu werden.  Es wäre unbegreiflich, wo auf einmal Schubert diese spielende, glänzende Meisterschaft, mit dem Orchester umzugehen, hergenommen hätte, wüßte man eben nicht, daß der Symphonie sechs andere vorausgegangen waren, und daß er sie in reifster Manneskraft schrieb.  Ein außerordentliches Talent muß es immer genannt werden, daß er, der so wenig von seinen Instrumentalwerken bei seinen Lebzeiten gehört, zu solcher eigentümlichen Behandlung der Instrumente wie der Masse des Orchesters gelangte, die oft wie Menschenstimmen und Chor durcheinander sprechen.  Diese Ähnlichkeit mit dem Stimmorgan habe ich, auch in vielen Beethovenschen, nirgends so täuschend und überraschend angetroffen; es ist das Umgekehrte der Meyerbeerschen Behandlung der Singstimme.

Die völlige Unabhängigkeit, in der die Symphonie zu denen Beethovens steht, ist ein anderes Zeichen ihres männlichen Ursprungs.  Hier sehe man, wie richtig und weise Schuberts Genius sich offenbart.  Die grotesken Formen, die kühnen Verhältnisse nachzuahmen, wie wir sie in Beethovens späteren Werken antreffen, vermeidet er im Bewußtsein seiner bescheidenen Kräfte; er gibt uns ein Werk in anmutvollster Form und trotzdem in neuverschlungener Weise, nirgends zu weit vom Mittelpunkt wegführend, immer wieder zu ihm zurückkehrend.  So muß es jedem erscheinen, der die Symphonie sich öfters betrachtet.  Im Anfange wohl wird das Glänzende, Neue der Instrumentation, die Weite und Breite der Form, der reizende Wechsel des Gefühlslebens, die ganze neue Welt, in die wir versetzt werden, den und jenen verwirren, wie ja der erste Anblick von Ungewohntem; aber auch dann bleibt noch immer das holde Gefühl etwa wie nach einem vorübergegangenen Märchen- und Zauberspiel; man fühlt überall, der Komponist war seiner Gesichte Meister, und der Zusammenhang wird mit der Zeit wohl auch klar werden.  Diesen Eindruck der Sicherheit gibt gleich die prunkhaft romantische Einleitung, obwohl hier noch alles geheimnisvoll verhüllt scheint.  Gänzlich neu ist auch der Übergang von da in das Allegro; das Tempo scheint sich gar nicht zu ändern, wir sind angelandet, wissen nicht wie.  Die einzelnen Sätze zu zergliedern, bringt weder uns noch anderen Freude; man müßte die ganze Symphonie abschreiben, vom novellistischen Charakter, der sie durchweht, einen Begriff zu geben.  Nur vom zweiten Satze, der mit so gar rührenden Stimmen zu uns spricht, mag ich nicht ohne ein Wort scheiden.  In ihm findet sich auch eine Stelle, da wo ein Horn wie aus der Ferne ruft, das scheint mir aus anderer Sphäre herabgekommen zu sein.  Hier lauscht auch alles, als ob ein himmlischer Gast im Orchester herumschliche.

Die Symphonie hat denn unter uns gewirkt wie nach den Beethovenschen keine noch.  Künstler und Kunstfreunde vereinigten sich zu ihrem Preise, und vom Meister, der sie auf das Sorgfältigste einstudiert, daß es prächtig zu vernehmen war, hörte ich einige Worte sprechen, die ich Schubert hätte bringen mögen, als vielleicht höchste Freudenbotschaft für ihn.  Jahre werden vielleicht vergehen, ehe sie sich in Deutschland heimisch gemacht hat; daß sie vergessen, übersehen werde, ist kein Bangen da; sie trägt den ewigen Jugendkeim in sich.

So hat denn mein Gräberbesuch, der mich an einen Verwandten des Geschiedenen erinnerte, mir einen zweiten Lohn gebracht.  Den ersten erhielt ich schon an jenem Tage selbst; ich fand auf Beethovens Grab -- eine Stahlfeder, die ich mir teuer aufbewahrt.  Nur bei festlicher Gelegenheit, wie heute, nehm' ich sie in Brauch: mög' ihr Angenehmes entflossen sein. 

 

Beethovens Grabmal