Richard Wagner
Beethoven
(1870)






Vorwort

Der Verfasser der vorliegenden Arbeit fühlte sich gedrungen, auch seinerseits zur Feier des hundertjährigen Geburtstages unseres großen B e e t h o v e n beizutragen, und wählte, da ihm hierzu keine andre, dieser Feier ihm würdig dünkende Veranlassung geboten war, eine schriftliche Ausführung seiner Gedanken über die Bedeutung der Beethovenschen Musik, wie sie ihm aufgegangen. Die Form der hieraus entstandenen Abhandlung kam ihm durch die Vorstellung an, er sei zur Abhaltung einer Festrede bei einer idealen Feier des großen Musikers berufen, wobei ihm, da in Wirklichkeit diese Rede nicht zu halten war, für die Darlegung seiner Gedanken der Vorteil einer größeren Ausführlichkeit zugut kam, als diese bei einem Vortrag vor einem wirklichen Auditorium erlaubt gewesen wäre. Es ward ihm hierdurch möglich, den Leser durch eine tiefergehende Untersuchung des Wesens der Musik zu geleiten und dem Nachdenken des ernstlich Gebildeten auf diesem Wege einen Beitrag zur Philosophie der Musik zu liefern, als welcher die vorliegende Arbeit einerseits angesehen werden möge, während andererseits die Annahme, sie werde wirklich an einem bestimmten Tage dieses so ungemein bedeutungsvollen Jahres vor einer deutschen Zuhörerschaft als Rede vorgetragen, eine warme Bezugnahme auf die erhebenden Ereignisse dieser Zeit nahelegte. Wie es dem Verfasser möglich war, unter den unmittelbaren Eindrücken dieser Ereignisse seine Arbeit zu entwerfen und auszuführen, möge sie demnach sich auch dieses Vorteiles erfreuen, der größeren Erregung des deutschen Gemütes auch eine innigere Berührung mit der Tiefe des deutschen Geistes ermöglicht zu haben, als im gewöhnlichen nationalen Dahinleben dies gelingen dürfte.

 


 

 Muß es schwierig dünken, über das wahre Verhältnis eines großen Künstlers zu seiner Nation einen befriedigenden Aufschluß zu geben, so steigert sich die Schwierigkeit dieser Aufgabe für den Besonnenen im allerhöchsten Grade, sobald nicht vom Dichter oder Bildner, sondern vom Musiker die Rede sein soll.

Daß der Dichter und der Bildner darin, wie beide die Gegebenheiten oder die Formen der Welt auffassen, zunächst von der Besonderheit der Nation, welcher sie angehören, bestimmt werden, ist bei ihrer Beurteilung wohl stets in das Auge gefaßt worden. Wenn bei dem Dichter sogleich die Sprache, in welcher er schreibt, als bestimmend für die von ihm kundzugebenden Anschauungen hervortritt, so springt die Natur seines Landes und seines Volkes als maßgebend für die Form und die Farbe des Bildners gewiß nicht minder bedeutend in das Auge. Weder durch die Sprache, noch auch durch irgendwelche Form der dem Auge wahrnehmbaren Gestalt seines Landes und Volkes hängt der Musiker mit diesen zusammen. Man nimmt daher an, die Tonsprache gehöre der ganzen Menschheit gleichmäßig zu und die Melodie sei die absolute Sprache, durch welche der Musiker zu jedem Herzen rede. Bei näherer Prüfung erkennen wir nun wohl, daß von einer deutschen Musik, im Unterschied von einer italienischen, sehr wohl die Rede sein könne, und für diesen Unterschied darf noch ein physiologischer nationaler Zug in Betracht genommen werden, nämlich die große Begünstigung des Italieners für den Gesang, welche diesen für die Ausbildung seiner Musik ebenso bestimmt habe, als der Deutsche durch Entbehrung in diesem Punkte auf sein besonderes, ihm eigenes Tongebiet gedrängt worden wäre. Da dieser Unterschied das Wesentliche der Tonsprache aber gar nicht berührt, sondern jede Melodie, sei sie italienischen oder deutschen Ursprunges, gleichmäßig verstanden wird, so kann dieses, zunächst doch wohl nur als ein ganz äußerlich aufzufassendes Moment, nicht von dem gleichen bestimmenden Einflusse gedacht werden, als wie die Sprache für den Dichter oder die physiognomische Beschaffenheit seines Landes für den Bildner: denn auch in diesen sind jene äußerlichen Unterschiede als Naturbegünstigungen oder Vernachlässigungen wiederzuerkennen, ohne daß wir ihnen eine Geltung für den geistigen Gehalt des künstlerischen Organismus beilegen.

Der Zug der Eigentümlichkeit, durch welchen der Musiker seiner Nation als angehörig erkannt wird, muß jedenfalls tiefer begründet liegen als der, durch welchen wir Goethe und Schiller als Deutsche, Rubens und Rembrandt als Niederländer erkennen, wenngleich wir diesen und jenen endlich wohl aus dem gleichen Grunde entstammt annehmen müssen. Diesem Grunde näher nachzuforschen, dürfte gerade so anziehend sein, als dem Wesen der Musik selbst tiefer auf den Grund zu gehen. Was auf dem Wege der dialektischen Behandlung bisher noch als unerreichbar hat gelten müssen, möchte dagegen leichter sich unserem Urteile erschließen, wenn wir uns die bestimmtere Aufgabe einer Untersuchung des Zusammenhanges des großen Musikers, dessen hundertjährige Geburtsfeier wir zu begehen im Begriffe sind, mit der deutschen Nation stellen, welche eben jetzt so ernste Prüfungen ihres Wertes einging.

Fragen wir uns zunächst nach diesem Zusammenhange im äußeren Sinne, so dürfte es bereits nicht leicht sein, einer Täuschung durch den Anschein zu entgehen. Wenn es schon so schwer fällt, einen Dichter sich zu erklären, daß wir von einem berühmten deutschen Literaturhistoriker die allertörichtsten Behauptungen über den Entwickelungsgang des Shakespeareschen Genius uns gefallen lassen mußten, so haben wir uns nicht zu verwundern, wenn wir auf noch größere Abirrungen treffen, sobald in ähnlicher Weise ein Musiker wie B e e t h o v e n zum Gegenstande genommen wird. Mit größerer Sicherheit ist es uns vergönnt, in den Entwickelungsgang Goethes und Schillers zu blicken, denn aus ihren bewußten Mitteilungen sind uns deutliche Angaben verblieben: auch diese decken uns aber nur den Gang ihrer ästhetischen Bildung, welcher ihr Kunstschaffen mehr begleitete als leitete, auf; über die realen Unterlagen desselben, namentlich über die Wahl der dichterischen Stoffe, erfahren wir eigentlich nur, daß hier auffallend mehr Zufall als Absicht waltete, eine wirkliche, mit dem Gange der äußeren Welt- oder Volksgeschichte zusammenhängende Tendenz läßt sich dabei am allerwenigsten erkennen. Auch über die Einwirkung ihrer Stoffe hat man bei diesen Dichtern nur mit der größten Behutsamkeit zu schließen, um es sich nicht entgehen zu lassen, daß diese nie unmittelbar, sondern nur in einem Sinne mittelbar sich äußerte, welche allen sicheren Nachweis ihres Einflusses auf die eigentliche dichterische Gestaltung unstatthaft macht. Dagegen erkennen wir aus unseren Forschungen in diesem Betreff gerade dieses Eine mit Sicherheit, daß ein in dieser Weise wahrnehmbarer Entwickelungsgang nur deutschen Dichtern, und zwar den großen Dichtern jener edlen Periode der deutschen Wiedergeburt zu eigen sein konnte.

Was wäre nun aber aus den uns aufbewahrten Briefen Beethovens und den ganz ungemein dürftigen Nachrichten über die äußeren Vorgänge, oder gar die inneren Beziehungen des Lebens unseres großen Musikers, auf deren Zusammenhang mit seinen Tonschöpfungen und den darin wahrnehmbaren Entwickelungsgang zu schließen? Wenn wir alle nur möglichen Angaben über bewußte Vorgänge in diesem Bezug bis zu mikroskopischer Deutlichkeit besäßen, könnten sie nichts Bestimmteres liefern, als was uns andererseits in der Nachricht vorliegt, daß der Meister die "Sinfonia eroica" anfangs als eine Huldigung für den jungen General Bonaparte entworfen und mit dessen Namen auf dem Titelblatte bezeichnet hatte, diesen Namen aber später ausstrich, als er erfuhr, Bonaparte habe sich zum Kaiser gemacht. Nie hat einer unserer Dichter eines seiner allerbedeutendsten Werke im Betreff der damit verbundenen Tendenz mit solcher Bestimmtheit bezeichnet: und was entnehmen wir dieser so deutlichen Notiz für die Beurteilung eines der wunderbarsten aller Tonwerke? Können wir uns aus ihr auch nur einen Takt dieser Partitur erklären? Muß es uns nicht als reiner Wahnwitz erscheinen, auch nur den Versuch zu einer solchen Erklärung ernstlich zu wagen?

Ich glaube, das Sicherste, was wir über den Menschen Beethoven erfahren können, wird im allerbesten Falle zu dem Musiker Beethoven in dem gleichen Verhältnisse stehen, wie der General Bonaparte zu der "Sinfonia eroica". Von dieser Seite des Bewußtseins betrachtet, muß uns der große Musiker stets ein vollkommenes Geheimnis bleiben. Um dieses in seiner Weise zu lösen, muß jedenfalls ein ganz anderer Weg eingeschlagen werden als der, auf welchem es möglich ist, wenigstens bis auf einen gewissen Punkt dem Schaffen Goethes und Schillers zu folgen: auch dieser Punkt wird sich gerade an der Stelle verwischen, wo dieses Schaffen aus einem bewußten in ein unbewußtes übergeht, d. h. wo der Dichter die ästhetische Form nicht mehr bestimmt, sondern diese aus seiner inneren Anschauung der Idee selbst bestimmt wird. Gerade aber in dieser Anschauung der Idee liegt wiederum die gänzliche Verschiedenheit des Dichters vom Musiker begründet, und um zu einiger Klarheit hierüber zu gelangen, haben wir uns zuvörderst einer tiefer eingehenden Untersuchung des berührten Problems zuzuwenden.--

Sehr ersichtlich tritt die hier gemeinte Diversität beim Bildner hervor, wenn wir ihn mit dem Musiker zusammen halten, zwischen welchen beiden der Dichter in der Weise in der Mitte steht, daß er mit seinem bewußten Gestalten sich dem Bildner zuneigt, während er auf dem dunklen Boden seines Unbewußtseins sich mit dem Musiker berührt. Bei G o e t h e war die bewußte Neigung zur bildenden Kunst so stark, daß er in einer wichtigen Periode seines Lebens sich geradesweges für ihre Ausübung bestimmt halten wollte, und in einem gewissen Sinne zeit seines Lebens sein dichterisches Schaffen als eine Art von Auskunftsbestrebung zum Ersatz für eine verfehlte Malerlaufbahn ansehen mochte: er war mit seinem Bewußtsein ein durchaus der anschaulichen Welt zugewendeter schöner Geist. S c h i l l e r war dagegen ungleich stärker von der Erforschung des der Anschauung gänzlich abliegenden Unterbodens des inneren Bewußtseins angezogen, dieses "Dinges an sich" der Kantischen Philosophie, deren Studium in der Hauptperiode seiner höheren Entwickelung ihn gänzlich einnahm. Der Punkt der andauernden Begegnung beider großer Geister lag genau da, wo von beiden Extremen her eben der Dichter aus sein Selbstbewußtsein trifft. Beide begegneten sich auch in der Ahnung vom Wesen der Musik, nur war diese Ahnung bei Schiller von einer tieferen Ansicht begleitet als bei Goethe, welcher in ihr, seiner ganzen Tendenz entsprechend, mehr nur das gefällige, plastisch symmetrische Element der Kunstmusik erfaßte, durch welches die Tonkunst analogisch wiederum mit der Architektur eine Ähnlichkeit aufweist. Tiefer faßte Schiller das hier berührte Problem mit dem Urteile auf, welchem Goethe ebenfalls zustimmte und durch welches dahin entschieden war, daß das Epos der Plastik, das Drama dagegen der Musik sich zuneige. Mit unserem voranstehenden Urteile über beide Dichter stimmt nun auch das überein, daß Schiller im eigentlichen Drama glücklicher war als Goethe, wogegen dieser dem epischen Gestalten mit unverkennbarer Vorliebe nachhing.

Mit philosophischer Klarheit hat aber erst Schopenhauer die Stellung der Musik zu den anderen schönen Künsten erkannt und bezeichnet, indem er ihr eine von derjenigen der bildenden und dichtenden Kunst gänzlich verschiedene Natur zuspricht. Er geht hierbei von der Verwunderung darüber aus, daß von der Musik eine Sprache geredet werde, welche ganz unmittelbar von jedem zu verstehen sei, da es hierzu gar keiner Vermittelung durch Begriffe bedürfe, wodurch sie sich zunächst eben vollständig von der Poesie unterscheide, deren einziges Material die Begriffe, vermöge ihrer Verwendung zur Veanschaulichung der I d e e seien. Nach der so einleuchtenden Definition des Philosophen sind nämlich die Ideen der Welt und ihrer wesentlichen Erscheinungen, im Sinne des Platon aufgefaßt, das Objekt der schönen Künste überhaupt, während der Dichter diese Ideen durch eine eben nur seiner Kunst eigentümliche Verwendung der an sich rationalen Begriffe dem anschauenden Bewußtsein verdeutlicht, glaubt Schopenhauer in der Musik aber selbst eine Idee der Welt erkennen zu müssen, da derjenige, welcher sie gänzlich in Begriffen verdeutlichen könnte, sich zugleich eine die Welt erklärende Philosophie vorgeführt haben würde. Stellt Schopenhauer diese hypothetische Erklärung der Musik, da sie durch Begriffe nicht eigentlich zu verdeutlichen sei, als Paradoxon hin, so liefert er andererseits jedoch auch das einzig ausgiebige Material zu einer weitergehenden Beleuchtung der Richtigkeit seiner tiefsinnigen Erklärung, zu welcher selbst er sich vielleicht nur aus dem Grunde nicht näher anließ, weil er der Musik als Laie nicht mächtig und vertraut genug war, und außerdem seine Kenntnis von ihr sich noch nicht bestimmt genug auf ein Verständnis eben desjenigen Musikers beziehen konnte, dessen Werke der Welt erst jenes tiefste Geheimnis der Musik erschlossen haben, denn gerade ist auch Beethoven nicht erschöpfend zu beurteilen, wenn nicht jenes von Schopenhauer hingestellte tiefsinnige Paradoxon für die philosophische Erkenntnis richtig erklärt und gelöst wird.--

In der Benutzung dieses vom Philosophen uns zugestellten Materials glaube ich am zweckmäßigsten zu verfahren, wenn ich zunächst an eine seiner Bemerkungen anknüpfe, mit welcher Schopenhauer die aus der Erkenntnis der Relationen hervorgegangene Idee noch nicht als das Wesen des Dinges an sich angesehen wissen will, sondern erst als die Offenbarung des objektiven Charakters der Dinge, also immer nur noch ihrer Erscheinung.  "Und selbst diesen Charakter" -- so fährt Schopenhauer an der betreffenden Stelle fort -- "würden wir nicht verstehen, wenn uns nicht das innere Wesen der Dinge, wenigstens undeutlich und im Gefühl, anderweitig bekannt wäre.  Dieses Wesen selbst nämlich kann nicht aus den Ideen und überhaupt nicht durch irgendeine bloß o b j e k t i v e  Erkenntnis verstanden werden, daher es ewig ein Geheimnis bleiben würde, wenn wir nicht von einer ganz anderen Seite den Zugang dazu hätten.  Nur sofern jedes Erkennende zugleich Individuum und dadurch Teil der Natur ist, steht ihm der Zugang zum Innern der Natur offen, in seinem eigenen Selbstbewußtsein, also wo dasselbe sich am unmittelbarsten und alsdann als Wille sich kundgibt."(1--Die Welt als Wille und Vorstellung [Insel=Ausg.] II, 1125.--)

Halten wir nun hierzu, was Schopenhauer als Bedingung für den Eintritt der Idee in unser Bewußtsein fordert, nämlich "ein temporäres Überwiegen des Intellektes über den Willen, oder physiologisch betrachtet, eine starke Erregung der anschauenden Gehirntätigkeit, ohne alle Erregung der Neigung oder Affekte", so haben wir nur noch die unmittelbar diesem folgende Erläuterung hiervon scharf zu erfassen, daß unser Bewußtsein vom  e i g e n e n  Selbst, welches der Wille ist, teils ein Bewußtsein hervortritt, desto mehr weicht die andere zurück." (2-- A.g.O. 1127)

Aus einer genauen Betrachtung des hier aus dem Hauptwerke Schopenhauers Angeführten muß es uns jetzt ersichtlich werden, daß die musikalische Konzeption, da sie nichts mit der Auffassung einer Idee gemein haben kann (denn diese ist durchaus an die anschauende Erkenntnis der Welt gebunden), nur in jener Seite des Bewußtseins ihren Ursprung haben kann, welche Schopenhauer als dem Inneren zugekehrt bezeichnet.  Soll diese zum Vorteil des Eintrittes des rein erkennenden Subjektes in seine Funktionen (d.h. die Auffassung der Ideen) temporär gänzlich zurücktreten, so ergibt sich andererseits, daß nur aus dieser nach innen gewendeten Seite des Bewußtseins die Fähigkeit des Intellektes zur Auffassung des Charakters der Dinge erklärlich wird.  Ist dieses Bewußtsein aber das Bewußtsein des eigenen Selbst, also des Willens, so muß angenommen werden, daß die Niederhaltung desselben wohl für die Reinheit des nach außen gewendeten anschauenden Bewußtseins unerläßlich ist, daß aber das diesem anschauenden Erkennen unerfaßliche Wesen des Dinges an sich nur diesem nach innen gewendeten Bewußtsein ermöglicht sein würde, wenn dieses zu der Fähigkeit gelangte, nach innen so hell zu sehen, als jenes im anschauenden Erkennen beim Erfassen der Ideen es nach außen vermag.

Auch für das Weitergehen auf diesem Wege gibt uns Schopenhauer die rechte Führung durch seine hiermit verbundene tiefsinnige Hypothese im Betreff des physiologischen Phänomens des Hellsehens und seine hierauf begründete Traumtheorie.  Gelangt in jenem Phänomen nämlich das nach innen gekehrte Bewußtsein zu wirklicher Hellsichtigkeit, d.h. zu dem Vermögen des Sehens dort, wo unser wachendes, dem Tage zugekehrtes Bewußtsein nur den mächtigen Grund unserer Willensaffekte dunkel empfindet, so dringt aus dieser Nacht aber auch der  Ton in die wirklich wache Wahrnehmung, als unmittelbare Äußerung des Willens.  Wie der Traum es jeder Erfahrung bestätigt, steht der vermöge der Funktionen des wachen Gehirnes angeschauten Welt eine zweite, dieser an Deutlichkeit ganz gleichkommende nicht minder als anschaulich sich kundgebende Welt zur Seite, welche als Objekt jedenfalls nicht außer uns liegen kann, demnach von einer nach innen gerichteten Funktion des Gehirnes unter nur diesem eigenen Formen der Wahrnehmung, welche hier Schopenhauer eben das Traumorgan nennt, dem Bewußtsein zur Erkenntnis gebracht werden muß.  Eine nicht minder bestimmte Erfahrung ist nun aber diese, daß neben der im Wachen wie im Traume als sichtbar sich darstellenden Welt eine zweite, nur durch das Gehör wahrnehmbare, durch den Schall sich kundgebende Welt, also recht eigentlich eine Schallwelt neben der Lichtwelt, für unser Bewußtsein vorhanden ist, von welcher wir sagen können, sie verhalte sich zu dieser wie der Traum zum Wachen:  sie ist uns nämlich ganz so deutlich wie jene, wenngleich wir sie als gänzlich verschieden von ihr erkennen müssen.  Wie die anschauliche Welt des Traumes doch nur durch eine besondere Tätigkeit des Gehirnes sich bilden kann, tritt auch die Musik nur durch eine ähnliche Gehirntätigkeit in unser Bewußtsein, allein diese ist von der durch das  S e h e n  geleiteten Tätigkeit geradeso verschieden, als jenes Traumorgan des Gehirnes von der Funktion des im Wachen durch äußere Eindrücke angeregten Gehirnes sich unterscheidet.

Da das Traumorgan durch äußere Eindrücke, gegen welche das Gehirn jetzt gänzlich verschlossen ist, nicht zur Tätigkeit angeregt werden kann, so muß dies durch Vorgänge im inneren Organismus geschehen, welche unserem wachen Bewußtsein sich nur als dunkle Gefühle andeuten.  Dieses innere Leben ist es nun aber, durch welches wir der ganzen Natur unmittelbar verwandt, somit des Wesens der Dinge in einer Weise teilhaftig sind, daß auf unsere Relationen zu ihm die Formen der äußeren Erkenntnis, Zeit und Raum, keine Anwendung mehr finden, woraus Schopenhauer so überzeugend auf die Entstehung der vorausverkündenden oder das Fernste wahrnehmbar machenden, fatidiken Träume, ja für seltene, äußere Fälle den Eintritt der somnambulen Hellsichtigkeit schließt.  Aus den beängstigendsten solcher Träume erwachen wir mit einem  S c h r e i, in welchem sich ganz unmittelbar der geängstigte Wille ausdrückt, welcher sonach durch den Schrei mit Bestimmtheit zusammenwächst in die Schallwelt eintritt, um nach außen hin sich kundzugeben.  Wollen wir nun den Schrei, in allen Abschwächungen seiner Heftigkeit bis zur zartesten Klage des Verlangens und als das Grundelement jeder menschlichen Kundgebung an das Gehör denken, und müssen wir finden, daß er die allerunmittelbarste Äußerung des Willens ist, durch welche er sich am schnellsten und sichersten nach außen wendet, so dürfen wir uns weniger über dessen unmittelbare Verständlichkeit, als über die Entstehung einer Kunst aus diesem Elemente verwundern, da andererseits ersichtlich ist, daß sowohl künstlerisches Schaffen als künstlerische Anschauung nur aus der Abwendung des Bewußtseins von den Erregungen des Willens hervorgehen kann.

Um dieses Wunder zu erklären, erinnern wir uns hier zunächst wieder der oben angeführten Bemerkung unseres Philosophen, daß wir auch die ihrer Natur nach nur durch willenfreie, d.h. objektive Anschauung erfaßbaren Ideen selbst nicht verstehen würden, wenn wir nicht zu dem ihnen zum Grunde liegenden Wesen der Dinge einen anderen Zugang, nämlich das unmittelbare Bewußtsein von uns selbst, offen hätten.  Durch dieses Bewußtsein sind wir nämlich einzig auch befähigt, das wiederum  innere Wesen der Dinge außer uns zu verstehen, und zwar so, daß wir in ihnen dasselbe Grundwesen wiedererkennen, welches im Bewußtsein von uns selbst als unser eigenes sich kundgibt.  Alle Täuschung hierüber ging eben nur aus dem   Sehen einer Welt außer uns hervor, welche wir im Scheine des Lichtes als etwas von uns gänzlich verschiedenes wahrnahmen:  erst durch das (geistige) Erschauen der Ideen, also durch weite Vermittelung gelangen wir zu einer nächsten Stufe der Enttäuschung hierüber, indem wir jetzt nicht mehr die einzelnen, zeitlich und räumlich getrennten Dinge, sondern ihren Charakter an sich erkennen, und am deutlichsten spricht dieser aus den Werken der bildenden Kunst zu uns, deren eigentliches Element es daher ist, den täuschenden Schein der durch das Licht vor uns ausgebreiteten Welt, vermöge eines höchst besonnenen Spieles mit diesem Scheine, zur Kundgebung der von ihm verhüllten Idee derselben zu verwenden.  Dem entspricht denn auch, daß das Sehen der Gegenstände an sich uns kalt und teilnahmslos läßt, und erst aus dem Gewahrwerden der Beziehungen der gesehenen Objekte zu unserem Willen uns Erregungen des Affektes entstehen, weshalb sehr richtig als erstes ästhetisches Prinzip für diese Kunst jenen Beziehungen zu unserem individuellen Willen gänzlich auszuweichen, um dagegen dem Sehen diejenige Ruhe zu bereiten, in welcher uns das reine Anschauen des Objektes, dem ihm eigenen Charakter nach, einzig ermöglicht wird.  Aber immer bleibt hier das Wirksame eben nur der Schein der Dinge, in dessen Betrachtung wir uns für die Augenblicke der willenfreien ästhetischen Anschauung versenken.  Diese Beruhigung beim reinen Gefallen am Scheine ist es auch, welche, von der Wirkung der bildenden Kunst auf alle Künste hinübergetragen, als Forderung für das ästhetische Gefallen überhaupt hingestellt worden ist, und vermöge dieser den Begriff der Schönheit erzeugt hat, wie er denn in unserer Sprache, der Wurzel des Wortes nach, deutlich mit dem Scheine (als Objekt) und dem Schauen (als Subjekt) zusammenhängt.--

Das Bewußtsein, welches einzig auch im Schauen des Scheines uns das Erfassen der durch ihn sich kundgebenden Idee ermöglichte, dürfte endlich sich aber gedrungen fühlen, mit Faust auszurufen:  "Welch Schauspiel!  Aber ach, ein Schauspiel nur!  Wo faß ich dich, unendliche Natur?"

Diesem Rufe antwortet nun auf das allersicherste die Musik.  Hier spricht die äußere Welt so unvergleichlich verständlich zu uns, weil sie durch das Gehör vermöge der Klangwirkung uns ganz dasselbe mitteilt, was wir aus tiefstem Inneren selbst ihr zurufen.  Das Objekt des vernommenen Tones fällt unmittelbar mit dem Subjekt des ausgegebenen Tones zusammen:  wir verstehen ohne jede Begriffsvermittelung, was uns der vernommene Hilfe-, Klage-oder Freudenruf sagt, und antworten ihm sofort in dem entsprechenden Sinne.  Ist der von uns ausgestoßene Schrei Klage- oder Wonnelaut die unmittelbarste Äußerung des Willensaffektes, so verstehen wir den gleichen, durch das Gehör zu uns dringenden Laut auch unwidersprechlich als Äußerung desselben Affektes, und keine Täuschung, wie im Scheine des Lichtes, ist hier möglich, daß das Grundwesen der Welt außer uns mit dem unsrigen nicht völlig identisch sei, wodurch jene dem Sehen dünkende Kluft sofort sich schließt.

Sehen wir nun aus diesem unmittelbaren Bewußtsein der Einheit unseres inneren Wesens mit dem der äußeren Welt eine Kunst hervorgehen, so leuchtet es zuvörderst ein, daß diese ganz anderen ästhetischen Gesetzen unterworfen sein muß, als jede andere Kunst.  Noch allen Ästhetikern hat es anstößig geschienen, aus einem ihnen so dünkenden, rein pathologischen Elemente eine wirkliche Kunst herleiten zu sollen, und sie haben diese somit erst von da an Gültigkeit zuerkennen wollen, wo ihre Produkte in einem den Gestaltungen der bildenden  Kunst eigenen , kühlen Scheine sich uns zeigten.  Daß ihr bloßes Element aber bereits als eine Idee der Welt von uns nicht mehr erschaut, sondern im tiefsten Bewußtsein empfunden wird, lernten wir mit so großem Erfolge durch Schopenhauer sofort erkennen, und diese Idee verstehen wir als eine unmittelbare Offenbarung der Einheit des Willens, welche sich unserem Bewußtsein, von der Einheit des menschlichen Wesens ausgehend, auch als Einheit mit der Natur, die wir ja ebenfalls durch den Schall vernehmen, unabweisbar darstellt.

Eine Aufklärung über das Wesen der Musik als Kunst glauben wir, so schwierig sie ist, am sichersten auf dem Wege der Betrachtung des Schaffens des inspirierten Musikers zu gewinnen.  In vieler Beziehung muß dieses von demjenigen anderer Künstler grundverschieden sein.  Von jenem hatten wir anzuerkennen, daß ihm das willenfreie, reine Anschauen der Objekte, wie es durch die Wirkung des vorgeführten Kunstwerkes bei dem Beschauer wieder hervorzubringen ist, vorangegangen sein müsse.  Ein solches Objekt, welches er durch reine Anschauung zur Idee erheben soll, stellt sich dem Musiker nun aber gar nicht dar, denn seine Musik selbst ist eine Idee der Welt, in welcher diese ihr Wesen unmittelbar darstellt, während in jenen Künsten es, erst durch das Erkennen vermittelt, dargestellt wird.  Es ist nicht anders zu fassen, als daß der im bildenden Künstler durch reines Anschauen zum Schweigen gebrachte individuelle Wille im Musiker als universeller Wille wach wird und über alle Anschauung hinaus sich als solcher recht eigentlich als selbstbewußt erkennt.  Daher denn auch der sehr verschiedene Zustand des konzipierenden Musikers und des entwerfenden Bildners, daher die so grundverschiedene Wirkung der Musik und der Malerei.  Hier tiefste Beschwichtigung, dort höchste Erregung des Willens:  dies sagt aber nichts anderes, als daß hier der im Individuum als solchem, somit im Wahne seiner Unterschiedenheit von dem Wesen der Dinge außer ihm befangene Wille gedacht wird, welcher eben erst im reinen, interesselosen Anschauen der Objekte über seine Schranke sich erhebt, wogegen nun dort, im Musiker, der Wille sofort über alle Schranken der Individualität hin sich einig fühlt:  denn durch das Gehör ist ihm das Tor geöffnet, durch welches die Welt zu ihm dringt, wie er zu ihr.  Diese ungeheuere Überflutung aller Schranken der Erscheinung muß im begeisterten Musiker notwendig eine Entzückung hervorrufen, mit welcher keine andere sich vergleichen ließe:  in ihr erkennt sich der Wille als allmächtiger Wille überhaupt:  nicht stumm hat er sich vor der Anschauung zurückzuhalten, sondern laut verkündet er sich selbst als bewußte Idee der Welt. -- Nur ein Zustand kann den seinigen übertreffen:  der des Heiligen, -- namentlich auch weil er andauernd und untrübbar ist, wogegen die entzückende Hellsichtigkeit des Musikers mit einem stets wiederkehrenden Zustande des individuellen Bewußtseins abzuwechseln hat, welcher um so jammervoller gedacht werden muß, als der begeisterte Zustand ihn höher über alle Schranken der Individualität erhob.  Aus diesem letzteren Grunde der Leiden, mit denen er den Zustand der Begeisterung, in welchem er uns so unaussprechlich entzückt, zu entgelten hat, dürfte uns der Musiker wieder verehrungswürdiger als andere Künstler, ja fast mit einem Anspruch an Heilighaltung erscheinen.  Denn seine Kunst verhält sich in Wahrheit zum Komplex aller anderen Künste wie die Religion zur Kirche.

Wir sahen, daß, wenn in den anderen Künsten der Wille gänzlich Erkenntnis zu werden verlangt, dieses sich ihm nur so weit ermöglicht, als er im tiefsten Innern schweigend verharrt:  es ist, als erwarte er von da außen erlösende Kunde über sich selbst, genügt ihm diese nicht, so setzt er sich selbst in den Zustand des Hellsehens, wo er sich dann außer den Schranken von Zeit und Raum als Ein und All der Welt erkennt.  Was er hier sah, ist in keiner Sprache mitzuteilen, wie der Traum des tiefsten Schlafes nur in die Sprache eines zweiten, dem Erwachen unmittelbar vorausgehenden, allegorischen Traumes übersetzt, in das wache Bewußtsein übergehen kann, schafft sich der Wille für das unmittelbare Bild seiner Selbstschau ein zweites Mitteilungsorgan, welches, während es mit der einen Seite seiner inneren Schau zugekehrt ist, mit der anderen die mit dem Erwachen nun wieder hervortretende Außenwelt durch einzig unmittelbar sympathische Kundgebung des Tones berührt.  Er ruft, und an dem Gegenruf erkennt er sich auch wieder:  so wird ihm Ruf und Gegenruf ein tröstendes, endlich ein entzückendes Spiel mit sich selbst.

 In schlafloser Nacht trat ich einst auf den Balkon meines Fensters am großen Kanal in Venedig:  wie ein tiefer Traum lag die märchenhafte Lagunenstadt im Schatten vor mir ausgedehnt.  Aus dem lautlosesten Schweigen erhob sich da der mächtige rauhe Klageruf eines soeben auf seiner Barke erwachten Gondoliers, mit welchem dieser in wiederholten Abständen in die Nacht hineinruft, bis aus weitester Ferne der gleiche Ruf dem nächtlichen Kanal entlang antwortete:  ich erkannte die uralte, schwermütige melodische Phrase, welcher seinerzeit auch die bekannten Verse Tassos untergelegt worden, die aber an sich gewiß  so alt ist, als Venedigs Kanäle mit ihrer Bevölkerung.  Nach feierlichen Pausen belebte sich endlich der weithin tönende Dialog und schien sich im Einklang zu verschmelzen, bis aus der Nähe wie aus der Ferne sanft das Tönen wieder im neugewonnenen Schlummer erlosch.  Was konnte mir das von der Sonne bestrahlte, bunt durchwimmelte Venedig des Tages von sich sagen, das jener tönende Nachttraum mir nicht unendlich tiefer unmittelbar zum Bewußtsein gebracht gehabt hätte? -- Ein anderes Mal durchwanderte ich die erhabene Einsamkeit eines Hochtales von Uri.  Es war heller Tag, als ich von einer hohen Alpenweide zur Seite her den grell jauchzenden Reigenruf eines Sennen vernahm, den er über das weite Tal hinübersandte, bald antwortete ihm von dort her durch das ungeheuere Schweigen der gleiche übermütige Hirtenruf:  hier mischte sich nun das Echo der ragenden Felswände hinein, im Wettkampfe ertönte lustig das ernst schweigsame Tal. -- So erwacht das Kind aus der Nacht des Mutterschoßes mit dem Schrei des Verlangens und antwortet ihm die beschwichtigende Liebkosung der Mutter, so versteht der sehnsüchtige Jüngling den Lockgesang der Waldvögel, so spricht die Klage der Tiere, der Lüfte, das Wutgeheul der Orkane zu dem sinnenden Manne, über den nun jener traumhafte Zustand kommt, in welchem er durch das Gehör das wahrnimmt, worüber ihn sein Sehen in der Täuschung der Zerstreutheit erhielt, nämlich daß sein innerstes Wesen mit dem innersten Wesen alles jenes Wahrgenommenen auch das Wesen der Dinge außer ihm wirklich erkannt wird.

Den traumartigen Zustand, in welchen die bezeichneten Wirkungen durch das sympathische Gehör versetzen und in welchem uns daher jene andere Welt aufgeht, aus welcher der Musiker zu uns spricht, erkennen wir sofort aus der einem jeden zugänglichen Erfahrung, daß durch die Wirkung der Musik auf uns das Gesicht in der Weise depontenziert wird, daß wir mit offenen Augen nicht mehr intensiv sehen.  Wir erfahren dies in jedem Konzertsaal während der Anhörung eines uns wahrhaft ergreifenden Tonstückes, wo das Allerzerstreuendste und an sich Häßlichste vor unseren Augen vorgeht, was uns jedenfalls, wenn wir es intensiv sähen, von der Musik gänzlich abziehen und sogar lächerlich gestimmt machen würde, nämlich, außer dem sehr trivial berührenden Anblicke der Zuhörerschaft, die mechanischen Bewegungen der Musiker, der ganze sonderbar sich bewegende Hilfsapparat einer orchestralen Produktion.  Daß dieser Anblick, welcher den nicht von der Musik Ergriffenen einzig beschäftigt, den von ihr Gefesselten endlich gar nicht mehr stört, zeigt uns deutlich, daß wir ihn nicht mehr mit Bewußtsein gewahr werden, dagegen nun mit offenen Augen in den Zustand geraten, welcher mit dem des somnambulen Hellsehens eine wesentliche Ähnlichkeit hat.  Und in Wahrheit ist es auch nur dieser Zustand, in welchem wir der Welt des Musikers unmittelbar angehörig werden.  Von dieser, sonst mit nichts zu schildernden Welt aus legt der Musiker durch die Fügung seiner Töne gewissermaßen das Netz nach uns aus, oder auch er besprengt mit den Wundertropfen seiner Klänge unser Wahrnehmungsvermögen in der Weise, daß er es für jede andere Wahrnehmung, als die unserer eigenen inneren Welt, wie durch Zauber außer Kraft setzt.

Wollen wir uns nun sein Verfahren hierbei einigermaßen verdeutlichen, so könnten wir dies immer nur wieder am besten, indem wir auf die Analogie desselben mit dem inneren Vorgange zurückkommen, durch welchen, nach Schopenhauers so lichtvoller Annahme, der dem wachen zerebralen Bewußtsein gänzlich entrückte Traum des tiefsten Schlafes sich in den leichteren, dem Erwachen unmittelbar vorausgehenden, allegorischen Traum gleichsam übersetzt.  Das analogisch in Betracht genommene Sprachvermögen erstreckt sich für den Musiker vom Schrei des Entsetzens bis zur Übung des tröstlichen Spieles der Wohllaute. Da er in der Verwendung der hier zwischenliegenden überreichen Abstufungen gleichsam von dem Drange nach einer verständlichen Mitteilung des innersten Traumbildes bestimmt wird, nähert er sich, wie der zweite, allegorische Traum, den Vorstellungen des wachen Gehirnes, durch welche dieses endlich das Traumbild zunächst für sich festzuhalten vermag.  In dieser Annäherung berührt er aber, als äußeres Moment seiner Mitteilung, nur die Vorstellungen der  Z e i t , während er diejenigen des Raumes in dem undurchdringlichen Schleier erhält, dessen Lüftung sein erschautes Traumbild sofort unkenntlich machen müßte.  Während die weder dem Raume noch der Zeit angehörige Harmonie der Töne das eigentlichste Element der Musik verbleibt, reicht der nun bildende Musiker der wachenden Erscheinungswelt durch die  r h y t h m i s c h e  Zeitfolge seiner Kundgebungen gleichsam die Hand zur Verständigung, wie der allegorische Traum an die gewohnten Vorstellungen des Individuums in der Weise anknüpft, daß das der Außenwelt zugekehrte wache Bewußtsein, wenngleich es die große Verschiedenheit auch dieses Traumbildes von dem Vorgange des wirklichen Lebens sofort erkennt, es dennoch festhalten kann.   Durch die r h y t h m i s c h e  Anordnung seiner Töne tritt somit der Musiker in eine Berührung mit der anschaulichen plastischen Welt, nämlich vermöge der Ähnlichkeit der Gesetze, nach welchen die Bewegung sichtbarer Körper unserer Anschauung verständlich sich kundgibt.  Die menschliche Gebärde, welche im Tanze durch ausdrucksvoll wechselnde gesetzmäßige Bewegung sich verständlich zu machen sucht, scheint somit für die Musik das zu sein, was die Körper wiederum für das Licht sind, welches ohne die Brechung an diesen nicht leuchten würde, während wir sagen können, daß ohne den Rhythmus uns die Musik nicht wahrnehmbar sein würde.  Eben hier, auf dem Punkte des Zusammentreffens der Plastik mit der Harmonie, zeigt sich aber das nur nach der Analogie des Traumes erfaßbare Wesen der Musik sehr deutlich als ein von dem Wesen namentlich der bildenden Kunst gänzlich verschiedenes, wie diese von der Gebärde, welche sie nur im Raum fixiert, die Bewegung der reflektierenden Anschauung zu supplieren überlassen muß, spricht die Musik das innerste Wesen der Gebärde mit solch unmittelbarer Verständlichkeit aus, daß sie, sobald wir ganz von der Musik erfüllt sind, sogar unser Gesicht für die intensive Wahrnehmung der Gebärde depotenziert, so daß wir sie endlich verstehen, ohne sie selbst zu sehen.  Zieht somit die Musik selbst die ihr verwandtesten Momente der Erscheinungswelt in ihr von so bezeichnetes Traumbereich, so geschieht dies doch nur, um die anschauende Erkenntnis durch eine mit ihr vorgehende wunderbare Umwandlung gleichsam nach innen zu wenden, wo sie nun befähigt wird, das Wesen der Dinge in seiner unmittelbarsten Kundgebung zu erfassen, gleichsam das Traumbild zu deuten, das der Musiker im tiefsten Schlafe selbst erschaut hatte. --

Über das Verhalten der Musik zu den plastischen Formen der Erscheinungswelt, sowie zu den von den Dingen selbst abgezogenen Begriffen kann unmöglich etwas Lichtvolleres hervorgebracht werden, als was wir hierüber in Schopenhauers Werke an der betreffenden Stelle lesen, weswegen wir uns von einem überflüssigen Verweilen hierbei zu der eigentlichen Aufgabe dieser Untersuchungen, nämlich der Erforschung der Natur des Musikers, selbst wenden.

Nur haben wir zuvor noch bei einer wichtigen Entscheidung im Betreff des ästhetischen Urteils über die Musik als Kunst zu verweilen.  Wir finden nämlich, daß aus den Formen der Musik, mit welchen diese sich der äußeren Erscheinung anzuschließen scheint, eine durchaus sinnlose und verkehrte Anforderung an den Charakter ihrer Kundgebungen entnommen worden ist.  Wie dies zuvor schon erwähnt war, sind auf die Musik Ansichten übertragen worden, welche lediglich der Beurteilung der bildenden Kunst entstammen. Daß diese Verirrung vor sich gehen konnte, haben wir jedenfalls der zuletzt bezeichneten äußeren Annäherung der Musik an die anschauliche Seite der Welt und ihrer Erscheinungen zuzuschreiben.  In dieser Richtung hat wirklich die musikalische Kunst einen Entwickelungsprozeß durchgemacht, welcher sie der Mißverständlichkeit ihres wahren Charakters so weit aussetzte, daß man von ihr eine ähnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst, nämlich die Erregung des  Gefallens an schönen Formen, forderte:  Da hierbei zugleich ein zunehmender Verfall des Urteils über die bildende Kunst selbst mit unterlief, so kann leicht gedacht werden, wie tief die Musik hierdurch erniedrigt war, wenn im Grunde von ihr gefordert wurde, sie sollte ihr eigenstes Wesen völlig darniederhalten, um nur durch Zukehrung ihrer äußerlichen Seite unsere Ergetzung zu erregen.

Die Musik, welche einzig dadurch zu uns spricht, daß sie den allerallgemeinsten Begriff des an sich dunklen Gefühles in den erdenklichsten Abstufungen mit bestimmtester Deutlichkeit uns belebt, kann an und für sich einzig nach der Kategorie des  Erhabenen beurteilt werden, da sie, sobald sie uns erfüllt, die höchste Ekstase des Bewußtseins der Schrankenlosigkeit erregt.  Was dagegen erst infolge der Versenkung in das Anschauen des Werkes der bildenden Kunst bei uns eintritt, nämlich die durch das Fahrenlassen der Relationen des angeschauten Objektes zu unserem individuellen Willen endlich gewonnene (temporäre) Befreiung des Intellektes vom Dienste jenes Willens, also die geforderte Wirkung der Schönheit auf das Gemüt, diese übt die Musik sofort bei ihrem ersten Eintritte aus, indem sie den Intellekt sogleich von jedem Erfassen der Relationen der Dinge außer uns abzieht und als reine, von jeder Gegenständlichkeit befreite Form uns gegen die Außenwelt gleichsam abschließt, dagegen nun uns einzig in unser Inneres, wie in das innere Wesen aller Dinge blicken läßt.  Demnach hätte also das Urteil über eine Musik sich auf die Erkenntnis derjenigen Gesetze zu stützen, nach welchen von der Wirkung der schönen Erscheinung, welche die allererste Wirkung des bloßen Eintrittes der Musik ist, zur Offenbarung ihres eigensten Charakters, durch die Wirkung des Erhabenen, am unmittelbarsten fortgeschritten wird.  Der Charakter einer recht eigentlich nichtssagenden Musik wäre es dagegen, wenn sie beim prismatischen Spiele mit dem Effekte ihres ersten Eintrittes verweilte und uns somit beständig nur in den Relationen erhielte, mit welchen die äußerste Seite der Musik sich der anschaulichen Welt zukehrt.

Wirklich ist der Musik eine andauernde Entwickelung einzig nach dieser Seite hin gegeben worden, und zwar durch ein systematisches Gefüge ihres rhythmischen Periodenbaues, welches sie einerseits in einen Vergleich mit der Architektur gebracht, andererseits ihr eine Überschaulichkeit gegeben hat, welche sie eben dem berührten falschen Urteile nach Analogie der bildenden Kunst aussetzen mußte.  Hier, in ihrer äußersten Eingeschränktheit in banale Formen und Konventionen, dünkte sie z.B. Goethe so glücklich verwendbar zur Normierung dichterischer Konzeptionen.  In diesen konventionellen Formen mit dem ungeheueren Vermögen der Musik nur so spielen zu können, daß ihrer eigentlichen Wirkung, der Kundgebung des inneren Wesens aller Dinge, gleich einer Gefahr durch Überflutung, ausgewichen werde, galt lange dem Urteile der Ästhetiker als das wahre und einzig erfreuliche Ergebnis der Ausbildung der Tonkunst.  Durch diese Formen aber zu dem innersten Wesen der Musik in der Weise durchgedrungen zu sein, daß er von dieser Seite her das innere Licht des Hellsehenden wieder nach außen zu werfen vermochte, um auch diese Formen nur nach ihrer inneren Bedeutung uns wieder zu zeigen, dies war das Werk unseres großen Beethoven, den wir daher als den wahren Inbegriff des Musikers uns vorzuführen haben. --

Wenn wir, dem Festhalten der öfter angezogenen Analogie des allegorischen Traumes, uns die Musik, von einer innersten Schau angeregt, nach außen hin diese Schau mitteilend denken wollen, so müssen wir als das eigentliche Organ hierfür, wie dort das Traumorgan, eine zerebrale Befähigung annehmen, vermöge welcher der Musiker zuerst das aller Erkenntnis verschlossene innere An-sich wahrnimmt, ein nach innen gewendetes Auge, welches nach außen gerichtet zum Gehör wird.   Wollen wir das von ihm wahrgenommene innerste (Traum-)Bild der Welt in seinem getreuesten Abbilde uns vorgeführt denken, so vermögen wir dies in ahnungsvollster Weise, wenn wir eines jener berühmten Kirchenstücke Palestrinas anhören.  Hier ist der Rhythmus nur erst noch durch den Wechsel der harmonischen Akkordfolgen wahrnehmbar, während er ohne diese, als symmetrische Zeitfolge für sich, gar nicht existiert, hier ist demnach die Zeitfolge noch so unmittelbar an das an sich zeit- und raumlose Wesen der Harmonie gebunden, daß die Hilfe der Gesetze der Zeit für das Verständnis einer solchen Musik noch gar nicht zu verwenden ist.  Die einzige Zeitfolge in einem solchen Tonstücke äußert sich fast nur in den zartesten Veränderungen einer Grundfarbe, welche die mannigfaltigsten Übergänge im Festhalten ihrer weitesten Verwandtschaft uns vorführt, ohne daß wir eine Zeichnung von Linien in diesem Wechsel wahrnehmen können.  Da nun diese Farbe selbst aber nicht im Raume erscheint, so erhalten wir hier ein fast ebenso zeit- als raumloses Bild, eine durchaus geistige Offenbarung, von welcher wir daher mit so unsäglicher Rührung ergriffen werden, weil sie uns zugleich deutlicher als alles andere das innerste Wesen der Religion, frei von jeder dogmatischen Begriffsfiktion, zum Bewußtsein bringt.

Vergegenwärtigen wir uns jetzt hier wieder ein Tanzmusikstück, oder einen dem Tanzmotive nachgebildeten Orchestersymphoniesatz, oder endlich eine eigentliche Opernpiece, so finden wir unsere Phantasie sogleich durch eine regelmäßige Anordnung in der Wiederkehr rhythmischer Perioden gefesselt, durch welche sich zunächst die Eindringlichkeit der Melodie, vermöge der ihr gegebenen Plastizität, bestimmt.  Sehr richtig hat man die auf diesem Wege ausgebildete Musik mit "weltlich" bezeichnet, im Gegensatze zu jener "geistlichen".  Über das Prinzip dieser Ausbildung habe ich mich anderwärts deutlich genug ausgesprochen (3--namentlich tat ich dies in Kürze und im allgemeinen in einer "Zukunftsmusik" betitelten Abhandlung, welche vor etwa zwölf Jahren [1860] in Leipzig veröffentlicht wurde, ohne jedoch irgendwelche Beachtung zu finden) und fasse dagegen hier die Tendenz derselben nur in dem bereits oben berührten Sinne der Analogie mit dem allegorischen Traume auf, demnach es scheint, als ob jetzt das wach gewordene Auge des Musikers an den Erscheinungen der Außenwelt so weit haftet, als diese ihm ihrem inneren Wesen nach sofort verständlich werden.  Die äußeren Gesetze, nach welchen dieses Haften an der Gebärde, endlich an jedem bewegungsvollen Vorgange des Lebens sich vollzieht, werden ihm zu denen der Rhythmik, vermöge welcher er Perioden der Entgegenstellung und der Wiederkehr konstruiert.  Je mehr diese Perioden nun von dem eigentlichen Geiste der Musik erfüllt sind, desto weniger werden sie als architektonische Merkzeichen unsere Aufmerksamkeit von der reinen Wirkung der Musik ableiten.  Hingegen wird da, wo jener zur Genüge bezeichnete innere Geist der Musik, zugunsten dieser regelmäßigen Säulenordnung der rhythmischen Einschnitte, in seiner eigensten Kundgebung sich abschwächt, nur jene äußerliche Regelmäßigkeit uns noch fesseln, und wir werden notwendig unsere Forderungen an die Musik selbst herabstimmen, indem wir sie jetzt hauptsächlich nur auf jene Regelmäßigkeit beziehen. -- Die Musik tritt hierdurch aus dem Stande ihrer erhabenen Unschuld, sie verliert die Kraft der Erlösung von der Schuld der Erscheinung, d.h. sie ist nicht mehr Verkünderin des Wesens der Dinge, sondern sie selbst wird in die Täuschung der Erscheinung der Dinge außer uns verwebt.  Denn zu dieser Musik will man nun auch etwas sehen, und dieses Zu-Sehende wird dabei zur Hauptsache, wie dies die "Oper" recht deutlich zeigt, wo das Spektakel, das Ballett usw. das Anziehende und Fesselnde ausmachen, was ersichtlich genug die Entartung der hierfür verwendeten Musik herausstellt. --

Das bisher Gesagte wollen wir uns nun durch ein näheres Eingehen auf den Entwickelungsgang des Beethovenschen Genius verdeutlichen, wobei wir uns zunächst, um aus der Allgemeinheit unserer Darstellung herauszutreten, den praktischen Gang der Ausübung des eigentümlichen Stiles des Meisters in das Auge zu fassen haben. --

Die Befähigung eines Musikers für seine Kunst, seine Bestimmung für sie, kann ich gewiß nicht anders herausstellen, als durch die auf ihn sich kundgebende Wirkung des Musizierens außer ihm.  In welcher Weise hiervon seine Fähigkeiten zur inneren Selbstschau, jener Hellsichtigkeit des tiefsten Welttraumes, angeregt worden ist, erfahren wir erst am voll erreichten Ziele seiner Selbstentwickelung, denn bis dahin gehorcht er den Gesetzen der Einwirkung äußerer Eindrücke auf ihn, und für den Musiker leiten sich diese zunächst von den Tonwerken der Meister seiner Zeit her.  Hier finden wir nun Beethoven von den Werken der Oper am allerwenigsten angeregt, wogegen ihm Eindrücke von der Kirchenmusik seiner Zeit näher lagen.  Das Metier des Klavierspielers, welches er, um als Musiker "etwas zu sein", zu ergreifen hatte, brachte ihn aber in andauernde und vertrauteste Berührung mit den Klavierkompositionen der Meister seiner Periode.   In dieser hatte sich die "Sonate" als Musterform herausgebildet.  Man kann sagen, Beethoven war und blieb Sonatenkomponist, denn für seine allermeisten und vorzüglichsten Instrumentalkompositionen war die Grundform der Sonate das Schleiergewebe, durch welches es in das Reich der Töne blickte, oder auch durch welches er, aus diesem Reiche auftauchend, sich uns verständlich machte, während andere, namentlich die gemischten Vokalmusikformen, von ihm, trotz der ungemeinsten Leistungen in ihnen, doch nur vorübergehend, wie versuchsweise berührt wurden.

Die Gesetzmäßigkeit der Sonatenform hatte sich durch Emanuel Bach, Haydn und Mozart für alle Zeiten gültig ausgebildet.  Sie war der Gewinn eines Kompromisses, welchen der deutsche mit dem italienischen Musikgeiste eingegangen war.  Ihr äußerlicher Charakter war ihr durch die Tendenz ihrer Verwendung verliehen:  mit der Sonate präsentierte sich der Klavierspieler vor dem Publikum, welches er durch seine Fertigkeit als solcher ergetzen und zugleich als Musiker angenehm unterhalten sollte.  Dies war nun nicht mehr Sebastian Bach, der seine Gemeinde in der Kirche vor der Orgel versammelte oder den Kenner und Genossen zum Wettkampfe dahin berief, eine weite Kluft trennte den wunderbaren Meister der Fuge von den Pflegern der Sonate.  Die Kunst der Fuge ward von diesen als ein Mittel der Befestigung des Studiums der Musik erlernt, für die Sonate aber nur als Künstlichkeit verwendet:  die rauhen Konsequenzen der reinen Kontrapunktik wichen dem Behagen an einer stabilen Eurythmie, deren fertiges Schema im Sinne italienischer Euphonie auszufüllen einzig den Forderungen an die Musik zu entsprechen schien.  In der Haydnschen Instrumentalmusik glauben wir den gefesselten Dämon der Musik mit der Kindlichkeit eines geborenen Greises vor uns spielen zu sehen.  Nicht mit Unrecht hält man die früheren Arbeiten Beethovens für besonders dem Haydnschen Vorbilde entsprungen, ja selbst in der reiferen Entwickelung seines Genius glaubt man ihm nähere Verwandtschaft mit Haydn als mit Mozart zusprechen zu müssen.  Über die eigentümliche Beschaffenheit dieser Verwandtschaft gibt nun ein auffallender Zug in dem Benehmen Beethovens gegen Haydn Aufschluß, welchen er als seinen Lehrer, für den er gehalten ward, durchaus nicht anerkennen wollte und gegen welchen er sich sogar  verletzende Äußerungen seines jugendlichen Übermutes erlaubte.  Es scheint, er fühlte sich Haydn verwandt wie der geborene Mann dem kindlichen Greise.  Weit über die formelle Übereinstimmung mit seinem Lehrer hinaus drängte ihn der unter jener Form gefesselte unbändige Dämon seiner inneren Musik zu einer Äußerung seiner Kraft, die, wie alles Verhalten des ungeheueren Musikers, sich eben nur mit unverständlicher Rauheit kundgeben konnte. -- Von seiner Begegnung als Jüngling mit Mozart wird uns erzählt, er sei unmutig vom Klaviere aufgesprungen, nachdem er dem Meister zu seiner Empfehlung eine Sonate vorgespielt hatte, wogegen er nun, um sich besser zu erkennen zu geben, frei phantasieren zu dürfen verlangte, was er denn auch, wie wir vernehmen, mit so bedeutendem Eindruck auf Mozart ausführte, daß dieser seinen Freunden sagte:  "Von dem wird die Welt etwas zu hören bekommen."  Dies wäre eine Äußerung Mozarts zu einer Zeit gewesen, wo dieser selbst mit deutlichem Selbstgefühle einer Entfaltung seines inneren Genius zureifte, welche bis dahin aus eigenstem Triebe sich zu vollziehen durch die unerhörten Abwendungen im Zwange einer jammervoll mühseligen Musikerlaufbahn aufgehalten worden war.  Wir wissen, wie er seinem allzu früh nahenden Tode mit dem bitteren Bewußtsein entgegensah, daß er nun erst dazu gelangt sein würde, der Welt zu zeigen, was er eigentlich in der Musik vermöge.

Dagegen sehen wir den jungen Beethoven der Welt sogleich mit dem trotzigen Temperamente entgegentreten, das ihn sein ganzes Leben hindurch in einer fast wilden Unabhängigkeit von ihr erhielt:  sein ungeheueres, vom stolzesten Mute getragenes Selbstgefühl gab ihm zu jeder Zeit die Abwehr der frivolen Anforderungen der genußsüchtigen Welt an die Musik ein.  Gegen die Zudringlichkeit eines verweichlichten Geschmackes hatte er einen Schatz von unermeßlichem Reichtum zu wahren.  In denselben Formen, in welchen die Musik sich nur noch als gefällige Kunst zeigen sollte, hatte er die Wahrsagung der innersten Tonweltschau zu verkündigen.  So gleicht er zu jeder Zeit einem wahrhaft Besessenen, denn von ihm gilt, was Schopenhauer vom Musiker überhaupt sagt:  dieser spreche die höchste Weisheit aus in einer Sprache, die seine Vernunft nicht verstehe.

Der "Vernunft" seiner Kunst begegnete er nur in dem Geiste, welcher den formellen Aufbau ihres äußeren Gerüstes ausgebildet hatte.  Das war denn eine gar dürftige Vernunft, die aus diesem architektonischen Periodengerüste zu ihm sprach, wenn er vernahm, wie selbst die großen Meister seiner Jugendzeit darin mit banaler Wiederholung von Phrasen und Floskeln, mit den genau eingeteilten Gegensätzen von stark und sanft, mit den vorschriftlich rezipierten gravitätischen Einleitungen von so und so vielen Takten, durch die unerläßliche Pforte von so und so vielen Halbschlüssen zu der seligmachenden lärmenden Schlußkadenz sich bewegten.  Das war die Vernunft, welche die Opernarie konstruiert, die Anreihung der Opernpiecen aneinander diktiert hatte, durch welche Haydn sein Genie an das Abzählen der Perlen eines Rosenkranzes fesselte.  Denn mit Palestrinas Musik war auch die Religion aus der Kirche geschwunden, wogegen nun der künstliche Formalismus der jesuitischen Praxis die Religion wie zugleich die Musik konreformierte. So verdeckt der gleiche jesuitische Baustil der zwei letzten Jahrhunderte den sinnvollen Beschauer das ehrwürdig edle Rom, so verweichlichte und versüßlichte sich die glorreiche italienische Malerei, so entstand, unter der gleichen Anleitung, die "klassische" französische Poesie, in deren geisttötenden Gesetzen wir eine recht sprechende Analogie mit den Gesetzen der Konstruktion der Opernarie und der Sonate auffinden können.

Wir wissen, daß der "über den Bergen" so sehr gefürchtete und gehaßte "deutsche Geist" es war, welcher überall, so auch auf dem Gebiete der Kunst, dieser künstlich geleiteten Verderbnis des europäischen Völkergeistes erlösend entgegentrat.  Haben wir auf anderen Gebieten unsere Lessing, Goethe, Schiller u.a. als unsere Erretter von dem Verkommen in jener Verderbnis gefeiert, so gilt es nun heute, an diesem Musiker Beethoven nachzuweisen, daß durch ihn, da er denn in der reinsten Sprache aller Völker redete, der deutsche Geist den Menschengeist von tiefer Schmach erlöste.  Denn indem er die zur bloßen gefälligen Kunst herabgesetzte Musik aus ihrem eigensten Wesen zu der Höhe ihres erhabenen Berufes erhob, hat er uns das Verständnis derjenigen Kunst erschlossen, aus welcher die Welt jedem Bewußtsein so bestimmt sich erklärt, als die tiefste Philosophie sie nur dem begriffskundigen Denker erklären könnte.  Und hierin einzig liegt das Verhältnis des großen Beethoven zur deutschen Nation begründet, welches wir uns nun auch in den unserer Kenntnis vorliegenden besonderen Zügen seines Lebens und Schaffens näher zu verdeutlichen suchen wollen. --

Darüber, wie sich das künstlerische Verfahren zu dem Konstruieren nach Vernunftbegriffen verhält, kann nichts einen belehrenderen Aufschluß geben, als ein getreues Auffassen des Verfahrens, welchem Beethoven in der Entfaltung seines musikalischen Genius folgte.  Ein Verfahren aus Vernunft wäre es gewesen, wenn er mit Bewußtsein die vorgefundenen äußeren Formen der Musik umgeändert oder gar umgestoßen hätte; hiervon treffen wir aber nie auf eine Spur. Gewiß hat es nie einen weniger über  seine Kunst nachdenkenden Künstler gegeben, als Beethoven.  Dagegen zeigt uns die schon erwähnte rauhe Heftigkeit seines menschlichen Wesens, wie er den Bann, in welchem jene Formen seinen Genius hielten, fast so unmittelbar als jeden anderen Zwang der Konvention mit dem Gefühle eines persönlichen Leidens empfand.  Seine Reaktion hiergegen bestand aber einzig in der übermütig freien, durch nichts, selbst durch jene Formen nicht zu hemmenden Entfaltung seines inneren Genius.  Nie änderte er grundsätzlich eine jener vorgefundenen Formen der Instrumentalmusik, in seinen letzten Sonaten, Quartetten, Symphonien usw. ist die gleiche Struktur wie in seinen ersten unverkennbar nachzuweisen.  Nun aber vergleiche man diese Werke miteinander, man halte z.B. die achte Symphonie in F-Dur zu der zweiten in D, und staune über die völlig neue Welt, welche uns dort in der fast ganz gleichen Form entgegentritt!

Hier zeigt sich denn wieder die Eigentümlichkeit der deutschen Natur, welche so innerlich tief und reich begabt ist, daß sie jeder Form ihr Wesen einzuprägen  weiß, indem sie diese von innen neu umbildet und dadurch von der Nötigung zu ihrem äußerlichen Umsturz bewahrt wird.   So ist der Deutsche nicht revolutionär, sondern reformatorisch, und so erhält er sich endlich auch für die Kundgebung seines inneren Wesens einen Reichtum von Formen, wie keine andere Nation.  Dieser tiefinnere Quell scheint eben dem Franzosen versiegt zu sein, weshalb er, durch die äußere Form seiner Zustände im Staat wie in der Kunst beängstigt, sich sofort zu ihrer gänzlichen Zerstörung wenden zu müssen glaubt, gewissermaßen in der Annahme, die neue behaglichere Form müsse dann ganz von selbst sich bilden lassen.  So geht seine Auflehnung sonderbarerweise immer nur gegen sein eigenes Naturell, welches sich nicht tiefer zeigt, als es in jener beängstigenden Form sich bereits ausspricht.  Dagegen hat es der Entwickelung des deutschen Geistes nichts geschadet, daß unsere poetische Literatur des Mittelalters sich aus der Übertragung französischer Rittergedichte ernährte: die innere Tiefe eines Wolfram von Eschenbach bildete aus demselben Stoffe, der in der Urform uns als bloßes Kuriosum aufbewahrt ist, ewige Typen der Poesie.  So nahmen wir die klassische Form der römischen und griechischen Kultur zu uns auf, bildeten ihre Sprache, ihre Verse nach, wußten uns die antike Anschauung anzueignen, aber nur indem wir unseren eigenen innersten Geist in ihnen aussprachen.  So auch überkamen wir die Musik mit allen ihren Formen von den Italienern, und was wir in diese einbildeten, das haben wir nun in den unbegreiflichen Werken des Beethovenschen Genius vor uns.

Diese Werke selbst erklären zu wollen, würde ein törichtes Unternehmen sein.  Indem wir sie uns ihrer Reihenfolge nach vorführen, haben wir mit immer gesteigerter Deutlichkeit die Durchdringung der musikalischen Form von dem Genius der Musik wahrzunehmen.  Es ist, als ob wir in den Werken seiner Vorgänger das gemalte Transparentbild bei Tagesscheine gesehen und hier in Zeichnung und Farbe ein offenbar mit dem Werke des echten Malers gar nicht zu vergleichendes, einer durchaus niedrigeren Kunstart angehöriges, deshalb auch von den rechten Kunstbekennern von oben herab angesehenes Pseudokunstwerk vor uns gehabt hätten:  dieses war zur Ausschmückung von Festen, bei fürstlichen Tafeln, zur Unterhaltung üppiger Gesellschaften u. dergl. ausgestellt, und der Virtuos stellte seine Kunstfertigkeit als das zur Beleuchtung bestimmte Licht davor statt dahinter.  Nun aber stellt Beethoven dieses Bild in das Schweigen der Nacht, zwischen die Welt der Erscheinung und die tiefinnere des Wesens aller Dinge, aus welcher er jetzt das Licht des Hellsichtigen hinter das Bild leitet:  da lebt denn dieses in wundervoller Weise vor uns auf, und eine zweite Welt steht vor uns, von der uns auch das größte Meisterwerk eines Raffael keine Ahnung geben konnte.

Die Macht des Musikers ist hier nicht anders, als durch die Vorstellung des Zaubers zu fassen.  Gewiß ist es ein bezauberter Zustand, in den wir geraten, wenn wir bei der Anhörung eines echten Beethovenschen Tonwerkes in allen den Teilen des Musikstückes, in welchen wir bei nüchternen Sinnen nur eine Art von technischer Zweckmäßigkeit für die Aufstellung der Form erblicken können, jetzt eine geisterhafte Lebendigkeit, eine bald zartfühlige, bald erschreckende Regsamkeit, ein pulsierendes Schwingen, Freuen, Sehnen, Bangen, Klagen und Entzücktsein wahrnehmen, welches alles wiederum nur aus dem tiefsten Grunde unseres eigenen Inneren sich in Bewegung zu setzen scheint.  Denn das für die Kunstgeschichte so wichtige Moment in dem musikalischen Gestalten Beethovens ist dieses, daß hier jedes technische Akzidenz der Kunst, durch welches sich der Künstler zum Zwecke seiner Verständlichkeit in ein konventionelles Verhalten zu der Welt außer ihm setzt, selbst zur höchsten Bedeutung als unmittelbarer Erguß erhoben wird.  Wie ich mich anderswo bereits ausdrückte, gibt es hier keine Zutat, keine Einrahmung der Melodie mehr, sondern alles wird Melodie, jede Stimme der Begleitung, jede rhythmische Note, ja selbst die Pause.

Da es ganz unmöglich ist, das eigentliche Wesen der Beethovenschen Musik besprechen zu wollen, ohne sofort in den Ton der Verzückung zu verfallen, und wir bereits an der leitenden Hand des Philosophen uns über das wahre Wesen der Musik überhaupt (womit die Beethovensche Musik im besonderen zu verstehen war) eingehender aufzuklären suchten, so wird, wollen wir von dem Unmöglichen abstehen, uns zunächst immer wieder der persönliche Beethoven zu fesseln haben, als der Fokus der Lichtstrahlen der von ihm ausgehenden Wunderwelt. --

Prüfen wir nun, woher Beethoven diese Kraft gewann, oder vielmehr, da das Geheimnis der Naturbegabung uns verschleiert bleiben muß und wir nur aus ihrer Wirkung das Vorhandensein dieser Kraft fraglos anzunehmen haben, suchen wir uns klarzumachen, durch welche Eigentümlichkeit des persönlichen Charakters und durch welche moralischen Triebe desselben der große Musiker die Konzentration jener Kraft auf diese eine ungeheuere Wirkung, welche seine künstlerische Tat ausmacht, ermöglichte.  Wir ersahen, daß wir hierfür jede Annahme einer Vernunfterkenntnis, durch welche die Ausbildung seiner künstlerischen Triebe etwa geleitet worden wäre, ausschließen müssen.  Dagegen werden wir uns lediglich an die männliche Kraft seines Charakters zu halten haben, dessen Einfluß auf die Entfaltung des inneren Genius des Meisters wir zuvor schon alsbald zu berühren hatten.

Wir brachten hier sofort Beethoven mit Haydn und Mozart in Vergleich.  Betrachten wir das Leben dieser beiden, so ergibt sich, wenn wir diese wieder gegen sich zusammenhalten, ein Übergang von Haydn durch Mozart zu Beethoven, zunächst in der Richtung der äußeren Bestimmungen des Lebens.  Haydn war und blieb ein fürstlicher Bedienter, der für die Unterhaltung seines glanzliebenden Herren als Musiker zu sorgen hatte, temporäre Unterbrechungen, wie seine Besuche in London, änderten im Charakter der Ausübung seiner Kunst wenig, denn gerade dort auch war er immer nur der vornehmen Herren empfohlene und von diesen bezahlte Musiker.  Submiß und devot, blieb ihm der Frieden eines wohlwollenden, heiteren Gemütes bis in ein hohes Alter ungetrübt, nur das Auge, welches uns aus seinem Porträt anblickt, ist von einer sanften Melancholie erfüllt. --   Mozarts Leben war dagegen ein unausgesetzter Kampf f0³r eine friedlich gesicherte Existenz, wie sie gerade ihm so eigentümlich erschwert bleiben sollte.  Als Kind von halb Europa geliebkost, findet er als Jüngling jede Befriedigung seiner lebhaft erregten Neigung bis zur lästigsten Bedrückung erschwert, um, von dem Eintritte in das Mannesalter an elend, einem frühen Tode entgegenzusiechen.  Ihm ward sofort der Musikdienst bei einem fürstlichen Herrn unerträglich:  er sucht sich vom Beifalle des größeren Publikums zu ernähren, gibt Konzerte und Akademien, das flüchtig Gewonnene wird der Lebenslust geopfert.  Verlangte Haydns Fürst steht bereite neue Unterhaltung, so mußte Mozart nicht minder von Tag zu Tag für etwas Neues sorgen, um das Publikum anzuziehen, Flüchtigkeit in der Konzeption und in der Ausführung nach angeeigneter Routine, wird ein Haupterklärungsgrund für den Charakter ihrer Werke.  Seine wahrhaft edlen Meisterwerke schreib Haydn erst als Greis, im Genusse eines auch durch auswärtigen Ruhm gesicherten Behagens.  Nie gelangte aber Mozart zu diesem:  seine schönsten Werke sind zwischen dem Übermute des Augenblickes und der Angst der nächsten Stunde entworfen.  So stand ihm immer nur wieder eine reichliche fürstliche Bedienstung als ersehnte Vermittlerin eines dem künstlerischen Produzieren günstigeren Lebens vor der Seele.  Was ihm sein Kaiser vorenthält, bietet ihm ein König von Preußen:  er bleibt "seinem Kaiser treu und verkommt dafür im Elend.

Hätte Beethoven nach kalter Vernunftüberlegung seine Lebenswahl getroffen, sie hätte ihn im Hinblick auf seine beiden großen Vorgänger nicht sicherer führen können, als ihn hierbei in Wahrheit der naive Ausdruck seines angeborenen Charakters bestimmte.  Es ist erstaunlich zu sehen, wie hier alles durch den kräftigen Instinkt der Natur entschieden wurde.  Ganz deutlich spricht dieser in Beethovens Zurückscheuen vor einer Lebenstendenz wie derjenigen Haydns.  Ein Blick auf den jungen Beethoven genügte wohl auch, um jeden Fürsten von dem Gedanken abzubringen, diesen zu seinem Kapellmeister zu machen.  Merkwürdiger zeigt sich dagegen die Komplexion seiner Charaktereigentümlichkeiten in denjenigen Zügen desselben, welche ihn vor einem Schicksale wie dem Mozarts bewahrten.  Gleich diesem völlig besitzlos in einer Welt ausgesetzt, in welcher nur das Nützliche sich lohnt, das Schöne nur belohnt wird, wenn es dem Genusse schmeichelt, das Erhabene aber durchaus ohne alle Erwiderung bleiben muß, fand Beethoven zuerst sich davon ausgeschlossen, durch das Schöne die Welt sich geneigt zu machen.  Daß Schönheit und Weichlichkeit ihm für gleich gelten müßten, drückte seine physiognomische Konstitution sofort mit hinreißender Prägnanz aus.  Die Welt der Erscheinung hatte einen dürftigen Zugang zu ihm.  Sein fast unheimlich stechendes Auge gewahrte in der Außenwelt nichts wie belästigende Störungen seiner inneren Welt, welche sich abzuhalten fast seinen einzigen Rapport mit dieser Welt ausmachte.  So wird der Krampf zum Ausdrucke seines Gesichtes, der Krampf des Trotzes hält diese Nase, diesen Mund in der Spannung, welche nie zum Lächeln, sondern nur zum ungeheueren Lachen sich lösen kann.  Galt es als physiologisches Axiom für hohe geistige Begabung, daß ein großes Gehirn in dünner zarter Hirnschale eingeschlossen sein soll, wie zur Erleichterung eines unmittelbaren Erkennens der Dinge außer uns, so sahen wir dagegen bei der vor mehreren Jahren stattgefundenen Besichtigung der Überreste des Toten, in Übereinstimmung mit einer außerordentlichen Stärke des ganzen Knochenbaues, die Hirnschale von ganz ungewöhnlicher Dicke und Festigkeit.  So schützte die Natur in ihm ein Gehirn von übermäßiger Zartheit, damit es nur nach innen blicken und die Weltschau eines großen Herzens in ungestörter Ruhe üben könnte.  Was diese furchtbar rüstige Kraft umschloß und bewahrte, war eine innere Welt von so lichter Zartheit, da0_ sie, schutzlos der rohen Betastung der Außenwelt preisgegeben, weich zerflossen und verduftet wäre -- wie der zarte Licht- und Liebesgenius Mozarts. --

Nun sage man sich, wie ein solches Wesen aus solch wuchtigem Gehäuse in die Welt blickte! -- Gewiß konnten die inneren Willensaffekte dieses Menschen nie oder nur undeutlich seine Auffassung der Außenwelt bestimmen, sie waren zu heftig und zugleich zu zart, um an einer der Erscheinungen haften zu können, welche sein Blick nur mit scheuer Hast, endlich mit jenem Mißtrauen des stets Unbefriedigten streifte.  Hier fesselte ihn selbst nichts mit der flüchtigen Täuschung, welche noch Mozart aus seiner inneren Welt zur Sucht nach äußerem Genusse herauslocken konnte.  Ein kindisches Behagen an den Zerstreuungen einer lebenslustigen großen Stadt konnte Beethoven kaum nur berühren, denn seine Willenstriebe waren viel zu stark, um in solch oberflächlich buntem Treiben auch nur die mindeste Sättigung finden zu können.  Nährte sich hieraus namentlich seine Neigung zur Einsamkeit, so fiel diese wieder mit seiner Bestimmung zur Unabhängigkeit zusammen.  Ein bewundernswert sicherer Instinkt leitete ihn gerade hierin und ward zur hauptsächlichsten Triebfeder der Äußerungen seines Charakters.  Keine Vernunfterkenntnis hätte ihn dabei deutlicher anweisen können, als dieser unabweisliche Trieb seines Instinktes.  Was Spinozas Bewußtsein leitete, sich durch Gläserschleifen zu ernähren, was unseren Schopenhauer mit der sein ganzes äußeres Leben, ja unerklärliche Züge seines Charakters bestimmenden Sorge, sein kleines Erbvermögen sich ungeschmälert zu erhalten, erfüllte, nämlich die Einsicht, daß die Wahrhaftigkeit jeder philosophischen Forschung durch eine Abhängigkeit von der Nötigung zum Gelderwerb auf dem Wege wissenschaftlicher Arbeiten ernstlich gefährdet ist:  dasselbe bestimmte Beethoven in seinem Trotze gegen die Welt, in seinem Hange zur Einsamkeit wie in den fast rauhen Neigungen, die sich bei der Wahl seiner Lebensweise aussprachen.

Wirklich hatte sich auch Beethoven durch den Ertrag seiner musikalischen Arbeiten seinen Lebensunterhalt zu gewinnen.  Wenn ihn nun aber nichts reizte, seiner Lebensweise ein anmutiges Behagen zu sichern, so ergab sich ihm hieraus eine mindere Nötigung sowohl zum schnellen, oberflächlichen Arbeiten, als auch zu Zugeständnissen an einen Geschmack, dem nur durch das Gefällige beizukommen war. Je mehr er so den Zusammenhang mit der Außenwelt verlor, desto klarsichtiger wendete sich sein Blick seiner inneren Welt zu.  Je vertrauter er sich hier in der Verwaltung seines inneren Reichtums fühlt, desto bewußter stellt er nun seine Forderungen nach außen und verlangt von seinen Gönnern wirklich, daß sie ihm nicht mehr seine Arbeiten bezahlen, sondern dafür sorgen sollen, daß er überhaupt, unbekümmert um alle Welt, für sich arbeiten könne.  Wirklich geschah es zum ersten Male im Leben eines Musikers, daß einige wohlwollende Hochgestellte sich dazu verpflichteten, Beethoven in dem verlangten Sinne unabhängig zu erhalten.  An einem ähnlichen Wendepunkte seines Lebens angelangt, war Mozart, zu früh erschöpft, zugrunde gegangen.  Die große ihm erwiesene Wohltat, wenn sie sich auch nicht in ununterbrochener Dauer und ungeschmälert erhielt, begründete doch die eigentümliche Harmonie, die sich in des Meisters, wenn auch noch so seltsam gestalteten Leben fortan kundtat.  Er fühlte sich als Sieger und wußte, daß er der Welt nur als freier Mann anzugehören habe.  Diese mußte sich ihn gefallen lassen, wie er war.  Seine hochadeligen Gönner behandelte er als Despot, und nichts war von ihm zu erhalten, als wozu und wann er Lust hatte.

Aber nie und zu nichts hatte er Lust, als was ihn nun immer und einzig einnahm:  das Spiel des Zauberers mit den Gestaltungen seiner inneren Welt.  Denn die äußere erlosch ihm nun ganz, nicht etwa weil Erblindung ihn ihres Anblickes beraubte, sondern weil Taubheit sie endlich seinem Ohre fernehielt.  Das Gehör war das einzige Organ, durch welches die äußere Welt noch störend zu ihm drang:  für sein Auge war sie längst erstorben.  Was sah der entzückte Träumer, wenn er durch die buntdurchwimmelten Straßen Wiens wandelte und offenen Auges vor sich hinstarrte, einzig vom Wachen seiner inneren Tonwelt belebt?  --  Das Entstehen und Zunehmen seines Gehörleidens peinigte ihn furchtbar und stimmte ihn zu tiefer Melancholie, über die eingetretene völlige Taubheit, namentlich über den Verlust der Fähigkeit, musikalischen Vorträgen zu lauschen, vernehmen wir keine erheblichen Klagen von ihm, nur der Lebensverkehr war ihm erschwert, der an sich keinen Reiz für ihn hatte und dem er nun immer entschiedener auswich.

Ein gehörloser Musiker! -- Ist ein erblindeter Maler zu denken?

Aber den erblindeten Seher kennen wir.  Dem Teiresias, dem die Welt der Erscheinung sich verschlossen und der dafür nun mit dem inneren Auge den Grund aller Erscheinung gewahrt -- ihm gleicht jetzt der ertäubte Musiker, der ungestört vom Geräusche des Lebens nun einzig noch den Harmonien seines Inneren lauscht, aus seiner Tiefe nur einzig noch zu jener Welt spricht, die ihm -- nichts mehr zu sagen hat.  So ist der Genius von jedem Außer-sich befreit, ganz bei sich und in sich.  Wer Beethoven damals mit dem Blicke des Teiresias gesehen hätte, welches Wunder müßte sich dem erschlossen haben:  eine unter Menschen wandelnde Welt -- das An-sich der Welt als wandelnder Mensch! --

Und nun erleuchtete sich des Meisters Auge von innen.  Jetzt warf er den Blick auch auf die Erscheinung, die durch sein inneres Licht beschienen, in wundervollem Reflexe sich wieder seinem Inneren mitteilte.  Jetzt spricht wiederum nur das Wesen der Dinge zu ihm und zeigt ihm diese in dem ruhigen Lichte der Schönheit.  Jetzt versteht er den Wald, den Bach, die Wiese, den blauen Äther, die heitere Menge, das liebende Paar, den Gesang der Vögel, den Zug der Wolken, das Brausen des Sturmes, die Wonne der selig bewegten Ruhe.  Da durchdringt all sein Sehen und Gestalten diese wunderbare Heiterkeit, die erst durch ihn der Musik zu eigen geworden ist.  Selbst die Klage, so innig ureigen allem Tönen, beschwichtigt sich zum Lächeln: die Welt gewinnt ihre Kindesunschuld wieder.  "Mit mir seit heute im Paradies" -- wer hörte sich dieses Erlöserwort nicht zugerufen, wenn er der "Pastoral-Symphonie" lauschte?

Jetzt wächst diese Kraft des Gestaltens des Unbegreiflichen, Niegesehenen, Nieerfahrenen, welches durch sie aber zur unmittelbarsten Erfahrung von ersichtlicher Begreiflichkeit wird.  Die Freude an der Ausübung dieser Kraft wird zum Humor:  aller Schmerz des Daseins bricht sich an diesem ungeheueren behagen des Spieles mit ihm, der Weltenschöpfer Brahma lacht über sich selbst, da er die Täuschung über sich selbst erkennt, die wiedergewonnene Unschuld spielt scherzend mit dem Stachel der gesühnten Schuld, das befreite Gewissen neckt sich mit seiner ausgestandenen Qual.

Nie hat eine Kunst der Welt etwas so Heiteres geschaffen, als diese Symphonien in A-Dur und F-dur, mit allen ihnen so innig verwandten Tonwerken des Meisters aus dieser göttlichen Zeit seiner völligen Taubheit.  Die Wirkung hiervon auf den Hörer ist eben diese Befreiung von aller Schuld, wie die Nachwirkung das Gefühl des verscherzten Paradieses ist, mit welchem wir uns wieder der Welt der Erscheinung zukehren.  So predigen diese wundervollen Werke Reue und Buße im tiefsten Sinne einer göttlichen Offenbarung.

Hier ist einzig der ästhetische Begriff des Erhabenen anzuwenden:  denn eben die Wirkung des Heiteren geht hier sofort über alle Befriedigung durch das Schöne weit hinaus.  Jeder Trotz der erkenntnisstolzen Vernunft bricht sich hier sofort an dem Zauber der Überwältigung unserer ganzen Natur; die Erkenntnis flieht mit dem Bekenntnis ihres Irrtumes, und die ungeheure Freude dieses Bekenntnisses ist es, in welcher wir aus tiefster Seele aufjauchzen, so ernsthaft auch die gänzlich gefesselte Miene des Zuhörers sein Erstaunen über die Unfähigkeit unseres Sehens und Denkens gegenüber dieser wahrhaftigsten Welt uns verrät. --

Was konnte von dem menschlichen Wesen des weltentrückten Genius der Beachtung der Welt noch übrig bleiben?  Was konnte das Auge des begegnenden Weltmenschen an ihm noch gewahren?  Gewiß nur Mißverständliches, wie er selbst nur durch Mißverständnis mit dieser Welt verkehrte, über welche er, vermöge seiner naiven Großherzigkeit, in einem steten Widerspruche mit sich selbst lag, der immer nur wieder auf dem erhabensten Boden der Kunst sich harmonisch ausgleichen konnte. Denn soweit seine Vernunft die Welt zu begreifen suchte, fühlte sein Gemüt sich zunächst durch die Ansichten des Optimismus beruhigt, wie er in den schwärmerischen Humanitätstendenzen des vorigen Jahrhunderts zu einer Gemeinannahme der bürgerlich-religiösen Welt ausgebildet worden war.  Jeden gemütlichen Zweifel, der ihm aus den Erfahrungen des Lebens gegen die Richtigkeit dieser Lehre aufstieß, bekämpfte er mit ostensibler Dokumentierung religiöser Grundmaximen.  Sein Innerstes sagte ihm:  die Liebe ist Gott, und so dekretierte er auch:  Gott ist die Liebe.  Nur was mit Emphase an diese Dogmen anstreifte, erhielt aus unseren Dichtern seinen Beifall, fesselte ihn der "Faust" stets gewaltig, so war ihm Klopstock und mancher flachere Humanitätssänger doch eigentlich besonders ehrwürdig.  Seine Moral war von strengster bürgerlicher Ausschließlichkeit, eine frivole Stimmung brachte ihn zum Schäumen.  Gewiß bot er so selbst dem aufmerksamsten Umgange keinen einzigen Zug von Geistreichigkeit dar, und Goethe mag, trotz Bettinas seelenvollen Phantasien über Beethoven, in seinen Unterhaltungen mit ihm wohl seine herzliche Not gehabt haben.  Aber wie er, ohne alles Bedürfnis des Luxus, sparsam, ja oft bis zur Geizigkeit sorgsam sein Einkommen bewachte, so drückt sich, wie in diesem Zuge, auch in seiner streng religiösen Moralität der sicherste Instinkt aus, durch dessen Kraft er sein Edelstes, die Freiheit seines Genius, gegen die unterjochende Beeinflussung der ihn umgebenden Welt bewahrte.

Er lebte in Wien und kannte nur Wien:  dies sagt genug.

Der Östreicher, der nach der Ausrottung jeder Spur des deutschen Protestantismus in der Schule romanischer Jesuiten auferzogen worden war, hatte selbst den richtigen Akzent für seine Sprache verloren, welche ihm jetzt, wie die klassischen Namen der antiken Welt, nur noch in undeutscher Verwelschung vorgesprochen wurde. Deutscher Geist, deutsche Art und Sitte wurden ihm aus Lehrbüchern spanischer und italienischer Abkunft erklärt, auf dem Boden einer gefälschten Geschichte, einer gefälschten Wissenschaft, einer gefälschten Religion war eine von der Natur heiter und frohmutig angelegte Bevölkerung zu jenem Skeptizismus erzogen worden, welcher, da vor allem das Haften am Wahren, Echten und Freien untergraben werden sollte, als wirkliche Frivolität sich zu erkennen geben mußte.

Dies war nun derselbe Geist, der auch der einzigen in Östreich gepflegten Kunst, der Musik, die Ausbildung und in Wahrheit erniedrigende Tendenz zugeführt hatte, welcher wir zuvor bereits unser Urteil zuwendeten. Wir sahen, wie Beethoven durch die mächtige Anlage seiner Natur sich gegen diese Tendenz wahrte, und erkennen nun die ganz gleiche Kraft in ihm auch mächtig zur Abwehr einer frivolen Lebens- und Geistestendenz wirken. Katholisch getauft und erzogen, legte durch solche Gesinnung der ganze Geist des deutschen Protestantismus in ihm. Und dieser leitete ihn auch als Künstler wiederum auf dem Wege, auf welchem er auf den einzigen Genossen seiner Kunst treffen sollte, dem er ehrfurchtsvoll sich neigen, den er als Offenbarung des tiefsten Geheimnisses seiner eigenen Natur in sich aufnehmen konnte. Galt Haydn als der Lehrer des Jünglings, so ward der große Sebastian Bach für das mächtig sich entfaltende Kunstleben des Mannes sein Führer.

Bachs Wunderwerk ward ihm zur Bibel seines Glaubens, in ihm las er und vergaß darüber die Welt des Klanges, die er nun nicht mehr vernahm. Da stand es geschrieben, das Rätselwort seines tiefinnersten Traumes, das einst der arme Leipziger Kantor als ewiges Symbol der neuen, anderen Welt aufgeschrieben hatte. Das waren dieselben rätselhaft verschlungenen Linien und wunderbar krausen Zeichen, in welchen dem großen Albrecht Dürer das Geheimnis der vom Lichte beschienenen Welt und ihrer Gestalten aufgegangen war, das Zauberbuch des Nekromanten, der das Licht des Makrokosmos über den Mikrokosmos hinleuchten lä3t. Was nur das Auge des deutschen Geistes erschauen, nur sein Ohr vernehmen konnte, was ihn aus innerstem Gewahrwerden zu der unwiderstehlichen Protestation gegen alles ihm auferlegte äußere Wesen trieb, das las nun Beethoven klar und deutlich in seinem allerheiligsten Buche und -- ward selbst ein Heiliger. --

Wie aber konnte gerade dieser Heilige wiederum für das Leben sich zu seiner eigenen Heiligkeit verhalten, da er wohl erleuchtet war, "die tiefste Weisheit auszusprechen, aber in einer Sprache, welche seine Vernunft nicht verstand?" Mute nicht sein Verkehr mit der Welt nur den Zustand des aus tiefstem Schlafe Erwachten ausdrücken, der auf den beseligenden Traum seines Inneren sich zu erinnern beschwerlich sich abmüht? Einen ähnlichen Zustand dürfen wir bei dem religiösen Heiligen annehmen, wenn er, vom unerläßlichesten Lebensbedürfnisse angetrieben, sich in irgendwelcher Annäherung den Verrichtungen des gemeinen Lebens wieder zuwendet: nur da dieser in der Not des Lebens selbst deutlich die Sühne für ein sündiges Dasein erkennt und in deren geduldiger Ertragung sogar mit Begeisterung das Mittel der Erlösung ergreift, wogegen jener heilige Seher seine Daseinsschuld eben nur als Leidender abträgt. Der Irrtum des Optimisten rächt sich nun durch Verstärkung dieser Leiden und seiner Empfindlichkeit dagegen. Jede ihm begegnende Gefühllosigkeit, jeder Zug von Selbstsucht oder Härte, den er stets und immer wieder wahrnimmt, empört ihn als eine unbegreifliche Verderbnis der mit religiösem Glauben in seiner Annahme festgehaltenen, ursprünglichen Güte des Menschen. So fällt er aus dem Paradiese seiner inneren Harmonie immer in die Hölle des furchtbar disharmonischen Daseins zurück, welches er wiederum nur als Künstler endlich harmonisch sich aufzulösen weiß.

Wollen wir uns das Bild eines Lebenstages unseres Heiligen vorführen, so dürfte eines jener wunderbaren Tonst0ücke des Meisters selbst uns das beste Gegenbild dazu an die Hand geben, wobei wir, um uns selbst nicht zu täuschen, immer nur das Verfahren festhalten müßten, mit welchem wir das Phänomen des Traumes analogisch, nicht aber mit diesem es identifizierend, auf die Entstehung der Musik als Kunst anwendeten. Ich wähle also, um solch einen echt Beethovenschen Lebenstag aus seinen innersten Vorgängen uns damit zu verdeutlichen, das große Cis-Moll-Quartett, weil wir dann jeden bestimmten Vergleich sofort fahren zu lassen uns genötigt fühlen und nur die unmittelbare Offenbarung aus einer anderen Welt vernehmen, ermöglicht sich uns aber doch wohl bis zu einem gewissen Grade, wenn wir diese Tondichtung uns bloß in der Erinnerung vorführen. Selbst hierbei muß ich aber wiederum der Phantasie des Lesers allein es überlassen, das Bild in seinen näheren einzelnen Zügen selbst zu beleben, weshalb ich ihr nur mit einem ganz allgemeinen Schema zu Hilfe komme.

Das einleitende längere Adagio, wohl das Schermütigste, was je in Tönen ausgesagt worden ist, möchte ich mit dem Erwachen am Morgen des Tages bezeichnen, "der in seinem langen Lauf nicht einen Wunsch erfüllen soll, nicht einen!" Doch zugleich ist es ein Bußgebet, eine Beratung mit Gott im Glauben an das ewig Gute. -- Das nach innen gewendete Auge erblickt da auch die nur ihm erkenntliche tröstliche Erscheinung (Allegro 6/8), in welcher das Verlangen zum wehmütig holden Spiele mit sich selbst wird; das innerste Traumbild wird in einer lieblichsten Erinnerung wach. Und nun ist es, als ob (mit dem überleitenden kurzen Allegro moderato) der Meister, seiner Kunst bewußt, sich zu seiner Zauberarbeit zurechtsetzte, die wiederbelebte Kraft dieses ihm eigenen Zaubers übte er nun (Andante 2/4) an dem Festbannen einer anmutsvollen Gestalt, um an ihr, dem seligen Zeugnisse innigster Unschuld, in stets neuer, unerhörter Veränderung durch die Strahlenbrechungen des ewigen Lichtes, welches er darauf fallen läßt, sich rastlos zu entzücken. -- Wir glauben nun den tief aus sich Beglückten den unsäglich erheiterten Blick auf die Außenwelt richten zu sehen (Presto 2/2): da steht sie wieder vor ihm, wie in der Pastoralsymphonie, alles wird ihm von seinem inneren Glücke beleuchtet, es ist, als lausche er den eigenen Tönen der Erscheinungen, die lustig und wiederum derb, im rhythmischen Tanze sich vor ihm bewegen. Er schaut dem Leben zu und scheint sich (kurzes Adagio 3/4) zu besinnen, wie er es anfinge, diesem Leben selbst zum Tanze aufzuspielen: ein kurzes, aber trübes Nachsinnen, als versenke er sich in den tiefen Traum seiner Seele. Ein Blick hat ihm wieder das Innere der Welt gezeigt: er erwacht und streicht nun in die Saiten zu einem Tanz aufspiele, wie es die Welt noch nie gehört (Allegro finale). Das ist der Tanz der Welt selbst: wilde Lust, schmerzliche Klage, Liebesentzücken, höchste Wonne, Jammer, Rasen, Wollust und Leid, da zuckt es wie Blitze, Wetter grollen: und über allem der ungeheuere Spielmann, der alles zwingt und bannt, stolz und sicher vom Wirbel zum Strudel, zum Abgrund geleitet: -- er lächelt über sich selbst, da ihm dieses Zaubern doch nur ein Spiel war. -- So winkt ihm die Nacht. Sein Tag ist vollbracht. --

Es ist nicht möglich, den Menschen Beethoven für irgendeine Betrachtung festzuhalten, ohne sofort wieder den wunderbaren Musiker Beethoven zu seiner Erklärung heranzuziehen.

Wir ersahen, wie seine instinktive Lebenstendenz mit der Tendenz der Emanzipation seiner Kunst zusammenfiel, wie er selbst kein Diener des Luxus sein konnte, so mußte auch seine Musik von allen Merkmalen der Unterordnung unter einen frivolen Geschmack befreit werden. Wie des weiteren und wiederum sein religiös optimistischer Glaube Hand in Hand mit einer instinktiven Tendenz der Erweiterung der Sphäre seiner Kunst ging, davon haben wir ein Zeugnis von erhabenster Naivität in seiner neunten Symphonie mit Chören, deren Genesis wir hier näher betrachten müssen, um uns den wundervollen Zusammenhang der bezeichneten Grundtendenzen der Natur unseres Heiligen klarzumachen. --

Derselbe Trieb, der Beethovens Vernunfterkenntnis leitete, den guten Menschen sich zu konstruieren, führte ihn in der Herstellung der Melodie dieses guten Menschen. Der Melodie, welche unter der Verwendung der Kunstmusiker ihre Unschuld verloren hatte, wollte er diese reinste Unschuld wiedergeben. Man rufe sich die italienische Opernmelodie des vorigen Jahrhunderts zurück, um zu erkennen, welch gänzlich nur der Mode und ihren Zwecken dienendes Wesen dieses sonderbar nichtige Tongespenst war: durch sie und ihre Verwendung war eben die Musik so tief erniedrigt worden, daß der lüsterne Geschmack von ihr immer nur etwas Neues verlangte, weil die Melodie von gestern heute nicht mehr anzuhören war. Von dieser Melodie lebte aber auch zunächst unsere Instrumentalmusik, deren Verwendung für die Zwecke eines keineswegs edlen gesellschaftlichen Lebens wir oben uns bereits vorführten.

Hier war es nun Haydn, der alsbald zur derben und gemütlichen Volkstanzweise griff, die er oft leicht erkenntlich selbst den ihm zunächst liegenden ungarischen Bauerntänzen entnahm, er blieb hiermit in einer niederen, vom engeren Lokalcharakter stark bestimmten Sphäre. Aus welcher Sphäre war nun aber diese Naturmelodie zu entnehmen, wenn sie einen edleren, ewigen Charakter tragen sollte? Denn auch diese Haydnsche Bauerntanzweise fesselte mehr als pikante Sonderbarkeit, keineswegs aber als für alle Zeiten gültiger, rein menschlicher Kunsttypus. Unmögliche war sie aber aus den höheren Sphären der Gesellschaft zu entnehmen, denn dort eben herrschte die verzärtelte, verschnörkelte, von jeder Schuld behaftete Melodie des Opernsängers und Balletttänzers. Auch Beethoven ging Haydns Weg, nur verwendete er die Volkstanzweise nicht mehr zur Unterhaltung an einer fürstlichen Speisetafel, sondern er spielte sie in einem idealen Sinne dem Volke selbst auf. Bald ist es eine schottische, bald eine russische, eine altfranzösische Volksweise, in welcher er den erträumten Adel der Unschuld erkannte und der er huldigend seine ganze Kunst zu Füßen legte. Mit einem ungarischen Bauerntanze spielte er (im Schlußsatze seiner A-Dur-Symphonie) aber der ganzen Natur auf, so daß, wer diese darnach tanzen sehen könnte, im ungeheueren Kreiswirbel einen neuen Planeten vor seinen Augen entstehen zu sehen glauben müßte.

Aber es galt den Urtypus der Unschuld, den idealen "guten Menschen" seines Glaubens zu finden, um ihn mit seinem "Gott ist die Liebe" zu vermählen. Fast könnte man den Meister schon in seiner "Sinfonia eroica" auf dieser Spur erkennen: das ungemein einfache Thema des letzten Satzes derselben, welches er zu Verarbeitungen auch anderswo wieder benützte, schien im als Grundgerüste hierzu dienen zu sollen, was er an ihm von hinreißendem Melos aufbaut, gehört aber noch zu sehr dem von ihm so eigentümlich entwickelten und erweiterten, sentimentalen Mozartschen Cantabile an, um als eine Errungenschaft in dem von uns gemeinten Sinne zu gelten. -- Deutlicher zeigt sich die Spur in dem jubelreichen Schlußsatze der C-Moll-Symphonie, wo uns die einfache, fast nur auf Tonika und Dominante, in der Naturskala der Hörner und Trompeten daherschreitende Marschweise um so mehr durch ihre große Naivität anspricht, als die vorangehende Symphonie jetzt nur wie eine spannende Vorbereitung auf sie erschein, wie das bald vom Sturm, bald von zarten Windeswehen bewegte Gewölk, aus welchem nun die Sonne mit mächtigen Strahlen hervorbricht.

Zugleich (wir schalten hier diese scheinbare Abschweifung als von wichtigem Bezug auf den Gegenstand unserer Untersuchung ein) fesselt uns aber diese C-Moll-Symphonie als eine der selteneren Konzeptionen des Meisters, in welchen schmerzlich erregte Leidenschaftlichkeit, als anfänglicher Grundton, auf der Stufenleiter des Trostes, der Erhebung, bis zum Ausbruche siegesbewußter Freude sich aufschwingt. Hier betritt das lyrische Pathos fast schon den Boden einer idealen Dramatik im bestimmteren Sinne, und wie es zweifelhaft dünken dürfte, ob auf diesem Wege die musikalische Konzeption nicht bereits in ihrer Reinheit getrübt werden möchte, weil die zur Herbeiziehung von Vorstellungen verleiten müßte, welche an sich dem Geiste der Musik durchaus fremd erscheiden, so ist andererseits wiederum nicht zu verkennen, daß der Meister keineswegs durch eine abirrende ästhetische Spekulation, sondern lediglich durch einen dem eigensten Gebiete der Musik entkeimten, durchaus idealen Instinkt hierin geleitet wurde. Dieser fiel, wie wir dis am Ausgangspunkte dieser letzten Untersuchung zeigten, mit dem Bestreben zusammen, den Glauben an die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur gegen alle, dem bloßen Anschein zuzuweisenden Einsprüche der Lebenserfahrung für das Bewußtsein zu retten oder vielleicht auch wiederzugewinnen. Die fast durchgängig dem Geiste der erhabensten Heiterkeit entsprungenen Konzeptionen des Meisters gehörten, wie wir dies oben ersahen, vorzüglich der Periode jener seligen Vereinsamung an, welche nach dem Eintritte seiner völligen Taubheit ihn der Welt des Leidens gänzlich entrückt zu haben schien. Vielleicht haben wir nun nicht nötig, auf die wiederum eintretende schmerzlichere Stimmung in einzelnen wichtigsten Konzeptionen Beethovens die Annahme des Verfalles jener inneren Heiterkeit zu gründen, da wir ganz gewiß fehlen würden, wenn wir glauben wollten, der Künstler könne überhaupt anders als bei tiefinnerer Seelenheiterkeit konzipieren. Die in der Konzeption sich ausdrückende Stimmung muß daher der Idee der Welt selbst angehören, welche der Künstler erfaßt und im Kunstwerke verdeutlicht. Da wir nun aber mit Bestimmtheit annahmen, daß in der Musik sich selbst die Idee der Welt offenbare, so ist der konzipierende Musiker vor allem in dieser Idee mit enthalten, und was er ausspricht, ist nicht seine Ansicht von der Welt, sondern die Welt selbst, in welcher Schmerz und Freude, Wohl und Wehe wechseln. Auch der bewußte Zweifel des Menschen Beethoven war in dieser Welt enthalten, und so spricht er unmittelbar, keineswegs als Objekt der Reflexion aus ihm, wenn er und die Welt etwa so zum Ausdruck bringt, wie in seiner neunten Symphonie, deren erster Satz uns allerdings die Idee der Welt in ihrem grauenvollsten Lichte zeigt. Unverkennbar waltet aber andererseits gerade in diesem Werke der überlegt ordnende Wille seines Schöpfers, wir begegnen seinem Ausdrucke unmittelbar, als er dem Rasen der nach jeder Beschwichtigung immer wiederkehrenden Verzweiflung, wie mit dem Angstrufe des aus furchtbarem Traume Erwachenden das wirklich gesprochene Wort zuruft, dessen idealer Sinn kein anderer ist, als: "der Mensch ist doch gut!"

Von je hat es nicht nur der Kritik, sondern auch dem unbefangenen Gefühle Anstoß gegeben, den Meister hier plötzlich aus der Musik gewissermaßen herausfallen, gleichsam aus dem von ihm selbst gezogenen Zauberkreise heraustreten zu sehen, um somit an ein von der musikalischen Konzeption völlig verschiedenes Vorstellungsvermögen zu appellieren. In Wahrheit gleicht dieser unerhörte künstlerische Vorgang dem jähen Erwachen aus dem Traume, wir empfinden aber zugleich die wohltätige Einwirkung hiervon auf den durch den Traum auf das äußerste Geängstigten, denn nie hatte zuvor uns ein Musiker die Qual der Welt so grauenvoll endlos erleben lassen. So war es denn wirklich ein Verzweiflungssprung, mit dem der göttlich-naive, nur von seinem Zauber erfüllte Meister in die neue Lichtwelt eintrat, aus deren Boden ihm die lange gesuchte göttlich-süße, unschuldsreine Menschenmelodie entgegenblühte.

Auch mit dem soeben bezeichneten ordnenden Willen der ihn zu dieser Melodie führte, sehen wir somit den Meister unentwegt in der Musik, als der Idee der Welt, enthalten; denn in Wahrheit ist es nicht der Sinn des Wortes, welcher uns beim Eintritte der menschlichen Stimme einnimmt, sondern der Charakter dieser menschlichen Stimme selbst. Auch die in Schillers Versen ausgesprochenen Gedanken sind es nicht, welche uns fortan beschäftigen, sondern der trauliche Klang des Chorgesanges, an welchem wir selbst einzustimmen uns aufgefordert fühlen, um, wie in den großen Passionsmusiken S. Bachs es wirklich mit dem Eintritte des Choral es geschah, als Gemeinde an dem idealen Gottesdienste selbst mit teilzunehmen. Ganz ersichtlich ist es, daß namentlich der eigentlichen Hauptmelodie die Worte Schillers, sogar mit wenigem Geschicke notdürftig erst untergelegt sind, denn ganz für sich, nur von Instrumenten vorgetragen, hat diese Melodie zuerst sich in voller Breite vor uns entwickelt und uns dort mit der namentlichen Rührung der Freude an dem gewonnenen Paradiese erfüllt.

Nie hat die höchste Kunst etwas künstlerisch Einfacheres hervorgebracht als diese Weise, deren kindliche Unschuld, wenn wir zuerst das Thema im gleichförmigsten Flüstern von den Baßinstrumenten des Saitenorchesters im Unisono vernehmen, uns wie mit heiligen Schauern anweht. Sie wird nun der Cantus firmus, der Choral der neuen Gemeinde, um welchen, wie um den Kirchenchoral S. Bachs, die hinzutretenden harmonischen Stimmen sich kontrapunktisch gruppieren: nichts gleicht der holden Innigkeit, zu welcher jede neu hinzutretende Stimme diese Urweise reinster Unschuld belegt, bis jeder Schmuck, jede Pracht der gesteigerten Empfindung an ihr und in ihr sich vereinigt, wie die atmende Welt um ein endlich geoffenbartes Dogma reinster Liebe. --

Überblicken wir den kunstgeschichtlichen Fortschritt, welchen die Musik durch Beethoven getan hat, so können wir ihn bündig als gen Gewinn einer Fähigkeit bezeichnen, welche man ihr vorher absprechen zu müssen vermeinte: sie ist vermöge dieser Befähigung weit über das Gebiet des ästhetisch Schönen in die Sphäre des durchaus Erhabenen getreten, in welcher sie von jeder Beengung durch traditionelle oder konventionelle Formen vermöge vollster Durchdringung und Belebung dieser Formen mit dem eigensten Geiste der Musik befreit ist. Und dieser Gewinn zeigt sich sofort für jedes menschliche Gemüt durch den der Hauptform aller Musik, der Melodie, von Beethoven verliehenen Charakter, als welcher jetzt die höchste Natureinfachheit wiedergewonnen ist, als der Born, aus welchem die Melodie zu jeder Zeit und bei jedem Bedürfnisse sich erneuert und bis zur höchsten, reichsten Mannigfaltigkeit sich ernährt. Und dieses dürfen wir unter dem einen, allen verständlichen Begriff fassen: die Melodie ist durch Beethoven von dem Einflusse der Mode und des wechselnden Geschmackes emanzipiert, zum ewig gültigen, rein menschlichen Typus erhoben worden. Beethovens Musik wird zu jeder Zeit verstanden werden, während die Musik seiner Vorgänger größtenteils nur unter Vermittelung kunstgeschichtlicher Reflexion uns verständlich bleiben wird. --

Aber noch ein anderer Fortschritt wird auf dem Wege, auf welchem Beethoven die entscheidend wichtige Veredelung der Melodie erzielte, ersichtlich, nämlich die neue Bedeutung, welche jetzt die Vokalmusik in ihrem Verhältnisse zur reinen Instrumentalmusik erhält.

Diese Bedeutung war der bisherigen gemischten Vokal- und Instrumentalmusik fremd. Diese, welche wir bisher zunächst in den kirchlichen Kompositionen antreffen, dürfen wir fürs erste unbedenklich als eine verdorbene Vokalmusik ansehen, insofern das Orchester hier nur als Verstärkung oder auch Begleitung der Gesangstimmen verwendet ist. Des großen S. Bachs Kirchenkompositionen sind nur durch den Gesangschor zu verstehen, nur daß dieser selbst hier bereits mit der Freiheit und Beweglichkeit eines Instrumentalorchesters behandelt wird, welche die Herbeiziehung desselben zur Verstärkung und Unterstützung jenes ganz von selbst eingab. Dieser Vermischung zur Seite treffen wir dann, bei immer größerem Verfalle des Geistes der Kirchenmusik, auf die Einmischung des italienischen Operngesanges mit Begleitung des Orchesters nach den zu verschiedenen Zeiten beliebten Manieren. Beethovens Genius war es vorbehalten, den aus diesen Mischungen sich bildenden Kunstkomplex rein im Sinne eines Orchesters von gesteigerter Fähigkeit zu verwenden. In seiner großen Missa Solemnis haben wir ein rein symphonisches Werk des echtesten Beethovenschen Geistes vor uns. Die Gesangstimmen sind hier ganz in dem Sinne wie menschliche Instrumente behandelt, welchen Schopenhauer diesen sehr richtig auch nur zugesprochen wissen wollte: der ihnen untergelegte Text wird von uns, gerade in diesen großen Kirchenkompositionen, nicht seiner begrifflichen Bedeutung nach aufgefaßt, sondern er dient, im Sinne des musikalischen Kunstwerkes, lediglich als Material für den Stimmgesang und verhält sich nur deswegen nicht streng zu unserer musikalisch bestimmten Empfindung, weil er uns keineswegs Vernunftvorstellungen anregt, sondern, wie dies auch sein kirchlicher Charakter bedingt, uns nur mit dem Eindrucke wohlbekannter symbolischer Glaubensformeln berührt.

Durch die Erfahrung, daß eine Musik nichts von ihrem Charakter verliert, wenn ihr auch sehr verschiedenartige Texte untergelegt werden, erhellt sich andererseits nun das Verhältnis der Musik zur Dichtkunst als ein durchaus illusorisches: den es bestätigt sich, daß, wenn zu einer Musik gesunden wird, nicht der poetische Gedanke, den man namentlich bei Chorgesängen nicht einmal verständlich artikuliert vernimmt, sondern höchstens das von ihm aufgefaßt wird, was er im Musiker als Musik und zur Musik anregte. Eine Vereinigung der Musik und der Dichtkunst muß daher stets zu einer solchen Geringstellung der letzteren ausschlagen, daß es nur wieder zu verwundern ist, wenn wir sehen, wie namentlich auch unsere großen deutschen Dichter das Problem einer Vereinigung der beiden Künste stets von neuem erwogen oder gar versuchten. Sie wurden hierbei ersichtlich von der Wirkung der Musik in der Oper geleitet: und allerdings schien hier einzig das Feld zu liegen, auf welchem es zu einer Lösung des Problems führen mußte. Mögen sich nun die Erwartungen unserer Dichter einerseits mehr auf die formelle Abgemessenheit ihrer Struktur, andererseits mehr auf die tief anregende gemütliche Wirkung der Musik bezogen haben, immer bleibt es ersichtlich, daß es ihnen nur in den Sinn kommen konnte, der hier dargeboten scheinenden mächtigen Hilfsmittel sich zu bedienen, um der dichterischen Absicht einen sowohl präziseren, als tiefer dringenden Ausdruck zu geben. Es mochte sie bedünken, daß die Musik ihnen gern diesen Dienst leisten würde, wenn sie ihr an der Stelle des trivialen Opernsujets und Operntextes eine ernstlich gemeinte dichterische Konzeption zuführten. Was sie immer wieder von ernstlichen Versuchen in dieser Richtung abhielt, mag wohl ein unklarer, aber richtig geleiteter Zweifel daran gewesen sein, ob die Dichtung als solche in ihrem Zusammenwirken mit der Musik überhaupt noch beachtet werde. Bei genauem Besinnen durfte es ihnen nicht entgehen, da in der Oper außer der Musik uns der szenische Vorgang, nicht aber der ihn erklärende dichterische Gedanke, die Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und da die Oper recht eigentlich nur das Zuhören oder Zusehen abwechselnd auf sich lenkte. Daß weder für das eine noch für das andere Rezeptionsvermögen eine vollkommene ästhetische Befriedigung zu gewinnen war, erklärt sich offenbar daraus, daß, wie ich oben dies bereits bezeichnete, die Opernmusik nicht zu der der Musik einzig entsprechenden Andacht umstimmte, in welcher das Gesicht derart depotenziert wird, daß das Auge die Gegenstände nicht mehr mit der gewohnten Intensität wahrnimmt, wogegen wir eben finden mußten, da wir hier, von der Musik nur oberflächlich berührt, durch sie mehr aufgeregt als von ihr erfüllt, nun auch etwas zu sehen verlangten -- keineswegs aber etwa zu denken, denn hierfür waren wir, eben durch dieses Widerspiel des Unterhaltungsverlangens, infolge einer im tiefsten Grunde nur gegen die Langeweile ankämpfenden Zerstreuung gänzlich der Fähigkeit beraubt worden.

Wir haben uns nun durch die vorangehenden Betrachtungen mit der besonderen Natur Beethovens genügend vertraut gemacht, um den Meister in seinem Verhalten zur Oper sofort zu verstehen, wenn er auf das allerentschiedenste ablehnte, je einen Operntext von frivoler Tendenz komponieren zu wollen. Ballett, Aufzüge, Feuerwerk, wollüstige Liebesintrigen usw., dazu eine Musik zu machen, das wies er mit Entsetzen von sich. Seine Musik mute eine ganze, hochherzig leidenschaftliche Handlung vollständig durchdringen können. Welcher Dichter sollte ihm hierzu die Hand zu bieten vermögen? Ein einmalig angetretener Versuch brachte ihn mit einer dramatischen Situation in Berührung, die wenigstens nichts von der gehaßten Frivolität an sich hatte und außerdem durch die Verherrlichung der weiblichen Treue dem leitenden Humanitätsdogma des Meisters gut entsprach. Und doch umschloß dieses Opernsujet so vieles der Musik Fremde, ihr Unassimilierbare, daß eigentlich nur die große Ouvertüre zu Leonore uns wirklich deutlich macht, wie Beethoven das Drama verstanden haben wollte. Wer wird dies hinreißende Tonstück anhören, ohne nicht von der Überzeugung erfüllt zu werden, daß die Musik auch das vollkommenste Drama in sich schließe? Was ist die dramatische Handlung des Textes der Oper "Leonore" anderes, als eine fast widerwärtige Abschwächung des in der Ouvertüre erlebten Dramas, etwa wie ein langweilig erläuternder Kommentar von Gervinus zu einer Szene des Shakespeare?

Diese hier jedem Gefühle sich aufdrängende Wahrnehmung kann uns aber zur vollkommen klaren Erkenntnis werden, wenn wir auf die philosophische Erklärung der Musik selbst zurückgehen.

Die Musik, welche nicht die in den Erscheinungen der Welt enthaltenen Ideen darstellt, dagegen selbst eine und zwar eine umfassende Idee der Welt ist, schließt das Drama ganz von selbst in sich, da das Drama wiederum selbst die einziger der Musik adäquate Idee der Welt ausdrückt. Das Drama überragt ganz in der Weise die Schranken der Dichtung, wie die Musik die jeder anderen, namentlich aber der bildenden Kunst, dadurch, daß seine Wirkung einzig im Erhabenen liegt. Wie das Drama die menschlichen Charaktere nicht schildert, sondern diese unmittelbar sich selbst darstellen läßt, so gibt uns eine Musik in ihren Motiven den Charakter aller Erscheinungen der Welt nach ihrem innersten An-sich. Die Bewegung, Gestaltung und Veränderung dieser Motive sind analogisch nicht nur einzig dem Drama verwandt, sondern das die Idee darstellende Drama kann in Wahrheit einzig nur durch jene so sich bewegendenden, gestaltenden und sich verändernden Motive der Musik vollkommen klar verstanden werden. Wir dürften somit nicht irren, wenn wir in der Musik die aprioristische Befähigung des Menschen zur Gestaltung des Dramas überhaupt erkennen wollten. Wenn wir die Welt der Erscheinungen uns durch die Anwendung der Gesetze des Raumes und der Zeit konstruieren, welche in unserem Gehirne aprioristisch vorgebildet sind, so würde diese wiederum bewußte Darstellung der Idee der Welt im Drama durch jene inneren Gesetze der Musik vorgebildet sein, welche im Dramatiker ebenso unbewußt sich geltend machten, wie jene ebenfalls unbewußt in Anwendung gebrachten Gesetze der Kausalität für die Apperzeption der Welt der Erscheinungen.

Die Ahnung hiervon war es eben, was unsere großen deutschen Dichter einnahm, und vielleicht sprachen sie in dieser Ahnung zugleich den geheimnisvollen Grund der nach anderen Annahmen bestehenden Unerklärlichkeit Shakespeares aus. Dieser ungeheuere Dramatiker war wirklich nach keiner Analogie mit irgendwelchem Dichter zu begreifen, weshalb auch ein ästhetisches Urteil über ihn noch gänzlich unbegründet geblieben ist. Seine Dramen erscheinen als ein so unmittelbares Abbild der Welt, daß die künstlerische Vermittelung in der Darstellung der Idee ihnen gar nicht anzumerken und namentlich nicht kritisch nachzuweisen ist, weshalb sie, als Produkte eines übermenschlichen Genies angestaunt, unseren großen Dichtern, fast in derselben Weise wie Naturwunder, zum Studium für das Auffingen der Gesetze ihrer Erzeugung wurden.

Wie weit Shakespeare über den eigentlichen Dichter erhaben war, drückt sich bei der ungemeinen Wahrhaftigkeit jedes Zuges seiner Darstellungen oft schroff genug aus, wenn der Poet, wie z.B. in der Szene des Streites zwischen Brutus und Cassius (im Julius Cäsar), geradesweges als ein albernes Wesen behandelt wird, wogegen wir den vermeintlichen "Dichter" Shakespeare nirgends antreffen als im eigensten Charakter der Gestalten selbst, die in seinen Dramen sich vor uns bewegen. -- Völlig unvergleichlich blieb daher Shakespeare, bis der deutsche Genius ein nur im Vergleiche mit ihm analogisch zu erklärendes Wesen in Beethoven hervorbrachte. -- Fassen wir den Komplex der Shakespeareschen Gestaltenwelt, mit der ungemeinen Prägnanz der in ihr enthaltenen und sich berührenden Charaktere, zu einem Gesamteindruck auf unsere innerste Empfindung zusammen, und halten wir zu diesem den gleichen Komplex der Beethovenschen Motivenwelt mit ihrer unabwehrbaren Eindringlichkeit und Bestimmtheit, so müssen wir inne werden, daß die eine dieser Welten die andere vollkommen deckt, so da jede in der anderen enthalten ist, wenngleich sie in durchaus verschiedenen Sphären sich zu bewegen scheinen.

Um diese Vorstellung uns zu erleichtern, führen wir uns in der Ouvertüre zu Coriolan das Beispiel vor, in welchem Beethoven und Shakespeare an dem gleichen Stoffe sich berühren. Sammeln wir uns in der Erinnerung and den Eindruck, welchen die Gestalt des Coriolan in Shakespeares Drama auf uns machte, und halten wir hierbei fürs erste von dem Detail der komplizierten Handlung nur dasjenige fest, was uns einzig wegen seiner Beziehung zu dem Hauptcharakter eindrucksvoll verbleiben konnte, so werden wir aus allem Gewirre die eine Gestalt des trotzigen Coriolan im Konflikt mit seiner innersten Sinne, welche wiederum aus der eigenen Mutter lauter und eindringlicher zu seinem Stolze spricht, hervorragen sehen und als dramatische Entwickelung einzig die Überwältigung des Stolzes durch jene Stimme, die Brechung des Trotzes einer über das Maß kräftigen Natur festhalten. Beethoven wählt für sein Drama einzig diese beiden Hauptmotive, welche bestimmter als alle Darlegung durch Begriffe das innerste Wesen jener beiden Charaktere uns empfinden läßt. Verfolgen wir nun andächtig die aus der einzigen Entgegenstellung dieser Motive sich entwickelnde, gänzlich nur ihrem musikalischen Charakter angehörende Bewegung und lassen wiederum das rein musikalische Detail, welches die Abstufungen, Berührungen, Entfernungen und Steigerungen dieser Motive in sich schließt, auf uns wirken, so verfolgen wir zugleich ein Drama, welches in seinem eigentümlichen Ausdrucke wiederum alles das enthält, was im vorgeführten Werke des Bühnendichters als komplizierte Handlung und Reibung auch geringerer Charaktere unsere Teilnahme in Anspruch nahm. Was uns dort als unmittelbar vorgeführte, von uns fast miterlebte Handlung ergriff, erfassen wir hier als den innersten Kern dieser Handlung, denn diese wurde dort durch die gleich Naturmächten wirkenden Charaktere so bestimmt, wie hier durch die in diesen Charakteren wirkenden, im innersten Wesen identischen Motive des Musikers. Nur da in jener Sphäre jene, in dieser Sphäre diese Gesetze der Ausdehnung und Bewegung walten.

Wenn wir die Musik die Offenbarung des innersten Traumbildes vom Wesen der Welt nannten, so dürfte uns Shakespeare als der im Wachen fortträumende Beethoven gelten. Was ihre beiden Sphären auseinander hält, sind die formellen Bedingungen der in ihnen gültigen Gesetze der Apperzeption. Die vollendetste Kunstform müßte demnach von dem Grenzpunkte aus sich bilden, auf welchem jene Gesetze sich zu berühren vermöchten. Was nun Shakespeare so unbegreiflich wie unvergleichlich macht, ist, daß die Formen des Dramas, welche noch die Schauspiele des großen Calderon bis zur konventionellen Sprödigkeit als recht eigentliche Künstlerwerke bestimmten, von ihm so lebensvoll durchdrungen wurden, daß sie uns wie von der Natur völlig hinweggedrängt erscheinen: wir glauben nicht mehr künstlich gebildete, sondern wirkliche Menschen vor uns zu sehen, wogegen sie wiederum uns so wunderbar fern abstehen, daß wir eine reale Berührung mit ihnen für so unmöglich halten müssen, als wenn wir Geistererscheinungen vor uns hätten. -- Wenn nun Beethoven gerade auch in seinem Verhalten zu den formalen Gesetzen seiner Kunst und in der befreienden Durchdringung derselben Shakespeare ganz gleichsteht, so dürften wir den angedeuteten Grenz- oder Übergangspunkt der beiden bezeichneten Sphären am deutlichsten zu bezeichnen hoffen, wenn wir noch einmal unseren Philosophen uns zum unmittelbaren Führer nehmen, und zwar indem wir auf dem Zielpunkt seiner hypothetischen Traumtheorie, die Erklärung der Geistererscheinungen, zurückgehen.

Es käme hierbei zunächst nicht auf die metaphysische, sondern auf die physiologische Erklärung des sogenannten "zweiten Gesichtes" an. Dort ward das Traumorgan als in dem Teile des Gehirnes fungierend gedacht, welcher durch Eindrücke des mit seinen inneren Angelegenheiten im tiefen Schlafe beschäftigten Organismus in analoger Weise angeregt werde, wie der jetzt vollkommen ruhende, nach außen gewandte, mit den Sinnesorganen unmittelbar verbundene Teil des Gehirnes durch im Wachen empfangene Eindrücke der äußeren Welt angeregt wird. Die vermöge dieses inneren Organes konzipierte Traummiteilung konnte nur durch einen zweiten, dem Erwachen unmittelbar vorausgehenden Traum überliefert werden, welcher den wahrhaftigen Inhalt des ersten nur in allegorischer Form vermitteln konnte, weil hier beim vorbereiteten und endlich vor sich gehenden vollen Erwachen des Gehirnes nach außen bereits die Formen der Erkenntnis der Erscheinungswelt nach Raum und Zeit in Anwendung gebracht werden mußten, und somit ein den gemeinen Erfahrungen des Lebens durchaus verwandtes Bild zu konstruieren war. -- Wir verglichen nun das Werk des Musikers dem Gesichte der hellsehend gewordenen Somnambule, als das von ihr erschaute und im erregtesten Zustande des Hellsehens auch nach außen verkündete unmittelbare Abbild des innersten Wahrtraumes, und fanden den Kanal zu dieser seiner Mitteilung auf dem Wege der Entstehung und Bildung der Klangwelt auf. -- Zu diesem, hier analogisch angezogenen physiologischen Phänomen der somnambulen Hellsichtigkeit halten wir nun das andere des Geistersehens und verwenden hierbei wiederum die hypothetische Erklärung Schopenhauers, wonach dieses ein bei wachem Gehirne eintretendes Hellsehen sei, nämlich es gehe dieses infolge einer Depotenzierung des wachen Gesichtes vor sich, dessen jetzt umflortes Sehen der inner Drang zu einer Mitteilung an das dem Wachen unmittelbar nahe Bewußtsein benutze, um ihm die im innersten Wahrtraume erschienene Gestalt deutlich vor sich zu zeigen. Diese so aus dem Inneren vor das Auge projizierte Gestalt gehört in keiner Weise der realen Welt der Erscheinung an, dennoch lebt sie vor dem Geisterseher mit all den Merkmalen eines wirklichen Wesens. Zu diesem, nur in außerordentlichen und seltenen Fällen dem inneren Willen gelingenden Projizieren des nur von ihm erschauten Bildes vor die Augen des wachenden, halten wir nun das Werk Shakespeares, um diesen selbst uns als den Geisterseher und Geisterbanner zu erklären, der die Gestalten der Menschen aller Zeiten aus seiner innersten Anschauung sich und uns so vor das wache Auge zu stellen weiß, daß sie wirklich vor uns zu leben scheinen.

Sobald wir uns nun dieser Analogie mit ihren vollsten Konsequenzen bemächtigen, dürfen wir Beethoven, den wir den hellsehenden Somnambulen verglichen, als den wirkenden Untergrund des geistersehenden Shakespeare bezeichnen: was Beethovens Melodien hervorbringt, projiziert auch die Shakespeareschen Geistergestalten, und beide werden sich gemeinschaftlich zu einem und demselben Wesen durchdringen, wenn wir den Musiker, indem er in die Klangwelt hervortritt, zugleich in die Lichtwelt eintreten lassen. Dies geschähe analog dem physiologischen Vorgange, welcher einerseits Grund der Geistersichtigkeit wird, andererseits die somnambule Hellsichtigkeit hervorbringt, und bei welchem anzunehmen ist, daß eine innere Anregung das Gehirn in umgekehrter Weise, als beim Wachen es der äußere Eindruck tut, von innen nach außen durchdringt, wo sie endlich auf die Sinnesorgane trifft und diese bestimmt, nach außen das zu gewahren, was als Objekt aus dem Inneren hervorgedrungen ist. Nun bestätigen wir aber die unleugbare Tatsache, daß beim innigen Anhören einer Musik das Gesicht in der Weise depotenziert werde, da es die Gegenstände nicht mehr intensiv wahrnähme: somit wäre dies der durch die innerste Traumwelt angeregte Zustand, welcher als Depotenzierung des Gesichtes die Erscheinung der Geistergestalt ermöglichte.

Wir können diese hypothetische Erklärung eines anderweitig unerklärlichen physiologischen Vorganges von verschiedenen Seiten her für die Erklärung des uns jetzt vorliegenden künstlerischen Problems anwenden, um zu dem gleichen Ergebnisse zu gelangen. Die Geistergestalten Shakespeares würden durch das völlige Wachwerden des inneren Musikorganes zum Ertönen gebracht werden, oder auch: Beethovens Motive würden das depotenzierte Gesicht zum deutlichen Gewahren jener Gestalten begeistern, in welchen verkörpert diese jetzt vor unserem hellsichtig gewordenen Auge sich bewegten. In dem einen wie dem anderen der an sich wesentlich identischen Fälle müßte die ungeheuere Kraft, welche hier gegen die Ordnung der Naturgesetze in dem angegebenen Sinne der Erscheinungsbildung von innen nach außen sich bewegte, aus einer tiefsten Not sich erzeugen, und es würde diese Not wahrscheinlich dieselbe sein, welche im gemeinen Lebensvorgange den Angstschrei des aus dem bedrängenden des tiefen Schlafe plötzlich Erwachenden hervorbringt, nur daß hier, im außerordentlichen, ungeheueren, das Leben des Genius der Menschheit gestaltenden Falle, die Not dem Erwachen in einer neuen, durch dieses Erwachen einzig offenzulegenden Welt hellsten Erkennens und höchster Befähigung zuführt.

Dieses Erwachen aus tiefster Not erleben wir aber bei jenem werkwürdigen, der gemeinen ästhetischen Kritik so anstößig gebliebenen Übersprunge der Instrumentalmusik in die Vokalmusik, von dessen Erklärung bei der Besprechung der neunten Symphonie Beethovens wir zu dieser weitausgreifenden Untersuchung ausgingen. Was wir hierbei empfinden, ist ein gewisses Übermaß, eine gewaltsame Nötigung zur Entladung nach außen, durchaus vergleichbar dem Drange nach Erwachen aus einem tiefbeängstigenden Traume, und das Bedeutsame für den Kunstgenius der Menschheit ist, daß dieser Drang hier eine künstlerische Tat hervorrief, durch welche diesem Genius ein neues Vermögen, die Befähigung zur Erzeugung des höchsten Kunstwerkes zugeführt ist.

Auf dieses Kunstwerk haben wir in dem Sinne zu schließen, das es das vollendeteste Drama, somit ein weit über das Werk der eigentlichen Dichtkunst hinausliegendes sein muß. Hierauf dürfen wir schließen, die wir die Identität des Shakespeareschen und des Beethovenschen Dramas erkannten, von welchem wir andererseits anzunehmen haben, daß es sich zur "Oper" verhalte wie ein Shakespearesches Stück zu einem Literaturdrama, und eine Beethovensche Symphonie zu einer Opernmusik.

Daß Beethoven im Verlauf seiner neunten Symphonie einfach zur förmlichen Chor-Kantate mit Orchester zurückkehrt, hat uns in der Beurteilung jenes merkwürdigen Übersprunges aus der Instrumental- in die Vokalmusik nicht zu beirren, die Bedeutung dieses choralen Teiles der Symphonie haben wir zuvor ermessen und diese als dem eigensten Felde der Musik angehörig erkannt: in ihm liegt, außer jener eingänglich behandelten Veredelung der Melodie, nichts formell Unerhörtes für uns vor, es ist eine Kantate mit Textworten, zu denen die Musik in kein anderes Verhältnis tritt, als zu jedem anderen Gesangstexte. Wir wissen, daß nicht die Verse des Textdichters, und wären es die Goethes und Schillers, die Musik bestimmen können, dies vermag allein das Drama, und zwar nicht das dramatische Gedicht, sondern das wirklich vor unseren Augen sich bewegende Drama, als sichtbar gewordenes Gegenbild der Musik, wo dann das Wort und die Rede einzig der Handlung, nicht aber dem dichterischen Gedanken mehr angehören.

Nicht also das Werk Beethovens, sondern jene in ihm enthaltene unerhörte künstlerische Tat des Musikers haben wir hier als den Höhepunkt der Entfaltung seines Genius festzuhalten, indem wir erklären, daß das ganz von dieser Tat belebte und gebildete Kunstwerk auch die vollendetste Kunstform bieten müßte, nämlich diejenige Form, in welcher wie für das Drama so besonders auch für die Musik jede Konventionalität vollständig aufgehoben sein würde. Dies wäre dann zugleich auch die einzige, dem in unserem großen Beethoven so kräftig individualisierten deutschen Geiste durchaus entsprechende, von ihm erschaffene rein menschliche, und doch ihm original angehörige, neue Kunstform, welche bis jetzt der neueren Welt, im Vergleiche zur antiken Welt, noch fehlt.

Es wird demjenigen, der sich zu den hier von mir ausgesprochenen Ansichten im Betreff der Beethovenschen Musik bestimmen lassen sollte, nicht zu ersparen sein, für phantastisch und überschwenglich gehalten zu werden, und zwar wird ihm dieser Vorwurf nicht nur von unseren heutigen gebildeten und ungebildeten Musikern, welche das von uns gemeinte Traumgesicht der Musik meistens nur unter der Gestalt des Traumes Zettels im Sommernachtstraum erfahren haben, gemacht werden, sondern namentlich auch von unseren Literaturpoeten und selbst bildenden Künstlern, insoweit diese sich überhaupt um fragen, welche ganz von ihrer Sphäre abzuführen scheinen, bekümmern. Leicht müßten wir uns aber dazu entschließen, jenen Vorwurf, selbst wenn er recht geringschätzig, ja mit einem auf Beleidigung berechneten Darüberhinwegsehen uns ausgedrückt würde, ruhig zu ertragen, denn es leuchtet uns ein, daß wir zunächst jene gar nicht zu ersehen vermögen, war wir erkennen, wogegen sie im besten Falle genau nur so viel hiervon zu gewahren imstande sind, als nötig sein dürfte, um ihnen ihre eigenen Unproduktivität erklärlich zu machen: daß sie vor dieser Erkenntnis aber zurückschrecken, muß wiederum uns nicht unverständlich sein.

Führen wir uns den Charakter unserer jetzigen literarischen und künstlerischen Öffentlichkeit vor, so gewahren wir eine merkliche Wandelung, welche seit etwa einem Menschenalter hierin sich zugetragen hat. Es steht hier alles nicht nur wie Hoffnung, sondern sogar in einem solchen Grade wie Gewißheit aus, daß die große Periode der deutschen Wiedergeburt, mit ihren Goethe und Schiller, selbst mit einer, immerhin wohltemperierten, Geringschätzung angesehen wird. Dies war vor einem Menschenalter ziemlich anders: es gab sich damals der Charakter unseres Zeitalters unverhohlen für einen wesentlich kritischen aus, man bezeichnete den Zeitgeist als einen "papierenen" und glaubte selbst der bildenden Kunst nur noch in der Zusammenstellung und Verwendung überkommener Typen eine allerdings von jeder Originalität entkleidete, lediglich reproduzierende Wirksamkeit zusprechen zu dürfen. Wir müssen annehmen, daß man hierin um jene Zeit wahrhaftiger sah und ehrlicher sich aussprach, als dies heutzutage der Fall ist. Wer daher noch jetzt, trotz des zuversichtlichen Gebarens unserer Literaten und literarischen Bildner, Erbauer und sonstiger mit dem öffentlichen Geiste verkehrenden Künstler, der Meinung von damals sein sollte, mit dem dürften wir uns leichter zu verständigen hoffen, wenn wir die unvergleichliche Bedeutung, welche die Musik für unsere Kulturentwickelung gewonnen hat, in ihr rechtes Licht zu stellen unternehmen, wofür wir uns schließlich aus dem vorzüglichen Versenken in die innere Welt, wie sie unsere bisherige Untersuchung veranlaßte, einer Betrachtung der äußeren Welt zuwenden, in welcher wir leben und unter deren Drucke jenes innere Wesen zu der ihm jetzt eigenen, nach außen reagierenden Kraft sich ermächtigte.

Um uns hierbei nicht etwa in einem weit gesponnenen kulturgeschichtlichen Irrgewebe zu verfangen, halten wir sofort einen charakteristischen Zug des öffentlichen Geistes der unmittelbaren Gegenwart fest.--

Während die deutschen Waffen siegreich nach dem Zentrum der französischen Zivilisation vordringen, regt sich bei uns plötzlich das Schamgefühl über unsere Abhängigkeit von dieser Zivilisation und tritt als Aufforderung zur Ablegung der Pariser Modetrachten vor die Öffentlichkeit. Dem patriotischen Gefühle erscheint also endlich das anstößig, was der ästhetische Schicklichkeitssin der Nation so lange nicht nur ohne jede Protestation ertragen, sondern dem unser öffentlicher Geist sogar mit Hast und Eifer nachgestrebt hat. Was sagte in der Tat wohl dem Bildner ein Blick auf unsere Öffentlichkeit, welche einerseits nur Stoff zu den Karikaturen unserer Witzblätter darbot, während andererseits wiederum unsere Poeten ungestört fortfuhren, das "deutsche Weib" zu beglückwünschen? -- Wir meinen, über diese so eigentümlich komplizierte Erscheinung sei wohl kein Wort der Beleuchtung zu verlieren. -- Vielleicht könnte sie aber als ein vorübergehendes Übel angesehen werden: man könnte erwarten, das Blut unserer Söhne, Brüder und Gatten, für den erhabensten Gedanken des deutschen Geistes auf den mörderischsten Schlachtfeldern der Geschichte vergossen, müßte unseren Töchtern, Schwestern und Frauen wenigstens die Wange mit Scham röten, und plötzlich müßte eine edelste Not ihnen den Stolz erwecken, ihren Männern nicht mehr als Karikaturen der lächerlichsten Art sich vorzustellen. Zur Ehre der deutschen Frauen wollen wir nun auch gern glauben, daß ein würdiges Gefühl in diesem Betreff sie bewege, und dennoch mute wohl jeder lächeln, wenn er von den ersten an sie gerichteten Aufforderungen, sich eine neue Tracht zuzulegen, Kenntnis nahm. Wer fühlte nicht, daß hier nur vor einer neuen und vermutlich sehr ungeschickten Maskerade die Rede sein konnte? Denn es ist nicht eine zufällige Laune unseres öffentlichen deutschen Lebens, daß wir unser der Herrschaft der Mode stehen, ebenso wie es in der Geschichte der modernen Zivilisation sehr wohl begründet ist, daß die Launen des Pariser Geschmackes uns die Gesetze der Mode diktieren. Wirklich ist der französische Geschmack, d.h. der Geist von Paris und Versailles, seit zweihundert Jahren das einzige produktive Ferment der europäischen Bildung gewesen, während der Geist keiner Nation mehr Kunsttypen zu bilden vermochte, produzierte der französische Geist wenigstens noch die äußere Form der Gesellschaft, und bis auf den heutigen Tag die Modetracht.

Mögen diese nun unwürdige Erscheinungen sein, so sind sie doch dem französischen Geiste original entsprechend, sie drücken ihn ganz so bestimmt und schnell erkenntlich aus, wie die Italiener der Renaissance, die Römer, die Griechen, die Ägypter und Assyrer in ihren Kunsttypen sich ausgedrückt haben, und durch nichts bezeigen uns die Franzosen mehr, daß sie das herrschende Volk der heutigen Zivilisation sind, als dadurch, daß unsere Phantasie sogleich auf das Lächerliche gerät, wenn wir uns imaginieren, uns bloß von ihrer Mode emanzipieren zu wollen. Wir erkennen sogleich, daß eine der französischen Mode gegenübergestellte "deutsche Mode" etwas ganz Absurdes sein würde, und müssen, da sich doch wieder unser Gefühl gegen jene Herrschaft empört, schließlich einsehen, daß wir einem wahren Fluche verfallen sind, von welchem uns nur eine unendlich tief begründete Neugeburt erlösen könnte. Unser ganzes Grundwesen müßte sich nämlich derart ändern, da der Begriff der Mode selbst für die Gestaltung unseres äußeren Lebens gänzlich sinnlos zu werden hätte.

Darauf, worin diese Neugeburt bestehen müßte, hätten wir nun mit großer Vorsicht Schlüsse zu ziehen, wenn wir zuerst den Gründen des tiefen Verfalles des öffentlichen Kunstgeschmackes nachgeforscht. Da uns die Anwendung von Analogien schon für den Hauptgegenstand unserer Untersuchungen mit einigem Glücke zu sonst schwierig zu erlangenden Aufschlüssen leitete, versuchen wir nochmals, uns zunächst auf ein anscheinend abliegendes Gebiet der Betrachtung zu begeben, auf welchem wir aber jedenfalls eine Ergänzung unserer Ansichten über den plastischen Charakter unserer Öffentlichkeit gewinnen dürften. --

Wollen wir uns ein wahres Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes vorstellen, so haben wir uns in die Zeiten vor der Erfindung der Schrift und ihrer Aufzeichnung auf Pergament oder Papier zu versetzen. Wir müssen finden, daß hier das ganze Kulturleben geboren worden ist, welches jetzt nur noch als Gegenstand des Nachsinnens oder der zweckmäßigen Anwendung sich forterhält. Hier war denn auch die Poesie nichts anderes als wirkliche Erfindung von Mythen, d.h. von idealen Vorgängen, in welchen sich das menschliche Leben nach seinem verschiedenen Charakter mit objektiver Wirklichkeit, im Sinne von unmittelbaren Geistererscheinungen, abspiegelte. Die Befähigung hierzu sehen wir jedem edelgearteten Volke zu eigen, bis zu dem Zeitpunkte, wo der Gebrauch der Schrift zu ihm gelangt. Von da ab schwindet ihm die poetische Kraft, die bisher wie im steten Naturentwickelungsprozeß lebendig sich gestaltende Sprache verfällt in den Kristallisationsprozeß und erstarrt, die Dichtkunst wird zur Kunst der Ausschmückung der alten, nun nicht mehr neuzuerfindenden Mythen und endigt als Rhetorik und Dialektik. -- Nun aber vergegenwärtigen wir uns den Übersprung der Schrift zur Buchdruckerkunst. Aus dem kostbaren geschriebenen Buche las der Hausherr der Familie, den Gästen vor, nun jedoch liest jeder selbst aus dem gedruckten Buche still für sich, und für die Leser schreibt jetzt der Schriftsteller. Man muß die religiösen Sekten der Reformationszeit, ihre Disputate und Traktätlein sich zurückrufen, um einen Einblick in das Wüten des Wahnsinns zu gewinnen, welcher sich der vom Buchstaben besessenen Menschenköpfe bemächtigt hatte. Man kann annehmen, daß nur Luthers herrlicher Choral den gesunden Geist der Reformation rettete, weil er das Gemüt bestimmte und die Buchstaben-Krankheit der Gehirne damit heilte. Aber noch konnte der Genius eines Volkes mit dem Buchdrucker sich verständigen, so kläglich im der Verkehr auch ankommen mochte, mit der Erfindung der Zeitungen, seit dem vollen Aufblühen des Journalwesens, mußte jedoch dieser gute Geist des Volkes sich gänzlich aus dem Leben zurückziehen. Denn jetzt herrschen nur noch Meinungen, und zwar "öffentliche", diese sind für Geld zu haben wie die öffentlichen Dirnen: wer eine Zeitung sich hält, hat neben der Makulatur noch ihre Meinung sich angeschafft, er braucht nicht mehr zu denken, noch zu sinnen, schwarz auf weiß ist bereits für ihn gedacht, was von Gott und der Welt zu halten sei. So sagt denn auch das Pariser Modejournal dem "deutschen Weibe", wie es sich zu kleiden hat, denn in solchen Dingen uns das Richtige sagen zu dürfen, dazu hat der Franzose sich ein volles Recht erworben, da er sich zum eigentlichen farbigen Illustrator unserer Journal-Papier-Welt aufgeschwungen hat.

Halten wir zu der Umwandlung der poetischen Welt in eine journalliteraische Welt jetzt diejenige, welche die Welt als Form und Farbe erfahren hat, so treffen wir nämlich auf das ganz gleiche Ergebnis.

Wer wäre so anmaßend, von sich sagen zu wollen, daß er sich wirklich einen Begriff von der Größe und göttlichen Erhabenheit der plastischen Welt des griechischen Altertums zu machen vermöge? Jeder Blick auf ein einziges Bruchstück ihrer uns erhaltenen Trümmer läßt uns mit Schauer empfinden, daß wir hier vor einem Leben stehen, zu dessen Beurteilung wir auch noch nicht einmal den mindesten Maßansatz finden können. Jene Welt hatte sich das Vorrecht erworben, selbst aus ihren Trümmern für alle Zeiten uns darüber zu belehren, wie der übrige Verlauf des Weltenlebens etwa noch erträglich zu gestalten wäre. Wir danken es den großen Italienern, diese Lehre uns neu belebt und edelsinnig in unsere Welt hinübergeleitet zu haben. Dieses mit so reicher Phantasie hochbegabte Volk sehen wir in der leidenschaftlichen Pflege jener Lehre sich völlig verzehren, nach einem wundervollen Jahrhunderte tritt es wie ein Traum aus der Geschichte, welche von nun an eines verwandt erscheinenden Volkes irrtümlich sich bemächtigt, wie um zu sehen, was aus diesem etwa für Form und Farbe der Welt zu ziehen sein möchte. Die italienische Kunst und Bildung suchte ein kluger Staatsmann und Kirchenfürst dem französischen Volksgeiste einzuimpfen, nachdem diesem Volke der protestantische Geist vollständig ausgetilgt war: seine edelsten Häupter hatte es fallen sehen, und was die Pariser Bluthochzeit verschont, war endlich noch sorgsam bis auf den letzten Stumpf ausgebrannt worden. Mit dem Reste der Nation ward nun "künstlerisch" verfahren, da ihr aber jede Phantasie abging oder ausgegangen war, wollte sich die Produktivität nirgends zeigen, und namentlich blieb sie unfähig+, eben ein Werk der Kunst zu schaffen. Besser gelang es, den Franzosen selbst zu einem künstlichen Menschen zu machen, die künstlerische Vorstellung, die seiner Phantasie nicht einging, konnte zu einer künstlichen Darstellung des ganzen Menschen an sich selbst gemacht werden. Dies konnte sogar für antik gelten, nämlich wenn man annahm, daß der Mensch an sich selbst erst Künstler sein müsse, ehe er Kunstwerke hervorzubringen hätte. Ging nun ein angebeteter galanter König mit dem rechten Beispiele einer ungemein delikaten Haltung in allem und jedem voran, so war es leicht, auf der von ihm absteigenden Klimax durch die Hofherren hinab endlich das ganze Volk zur Annahme der galanten Manieren zu bestimmen, in deren zur zweiten Natur artenden Pflege der Franzose sich insofern endlich über den Italiener der Renaissance erhaben dünken mochte, als dieser nur Kunstwerke geschaffen, der Franzose dagegen selbst ein Kunstwerk geworden sei.

Man kann sagen, der Franzose ist das Produkt einer besonderen Kunst, sich auszudrücken, sich zu bewegen und zu kleiden. Sein Gesetz hierfür ist der "Geschmack" -- ein Wort, das von der niedrigsten Sinnesfunktion her auf eine geistige Tendenz hingeleitet worden ist, und mit diesem Geschmacke schmeckt er sich eben selbst, nämlich so, wie er sich zubereitet hat, als eine schmackhafte Sauce. Unstreitig hat er es hierin zur Virtuosität gebracht: er ist durch und durch "modern", und wenn er der ganzen zivilisierten Welt sich so zur Nachahmung vorstellt, ist es nicht sein Fehler, wenn er ungeschickt nachgeahmt wird, wogegen es ihm vielmehr zur steten Schmeichelei gereicht, daß nur er in dem original ist, worin andere ihm nachzuahmen sich bestimmt fühlen. -- Dieser Mensch ist denn auch völlig "Journal", ihm ist die bildende Kunst, wie nicht minder die Musik, ein Objekt des "Feuilleton". Die erstere hat er sich, als durchaus moderner Mensch, so zurechtgelegt wie seine Kleidertracht in welcher er rein nach dem Belieben der Neuheit, d.h. des stets bewegten Wechsels verfährt. Hier ist das Ameublement die Hauptsache, zu diesem konstruiert der Architekt das Gehäuse. Die Tendenz, nach welcher dieses früher geschah, war bis zur großen Revolution noch in dem Sinne original, daß sie dem Charakter der herrschenden Klasse der Gesellschaft sich in der Weise anschmiegte, wie die Kleidertracht den Leibern und die Frisur den Köpfen derselben. Seitdem ist diese Tendenz insofern in Verfall geraten, als die vornehmeren Klassen sich schüchtern des Tonangebens in der Mode enthalten und dagegen die Initiative hierfür den zur Bedeutung gelangten breiteren Schichten der Bevölkerung (wir fassen immer Paris in das Auge) überlassen haben. Hier ist denn nun der sogenannte "Demimonde" mit seinen Liebhabern zum Tonangeber geworden: die Pariser Dame sucht sich ihrem Gatten durch Nachahmung der Sitten und Trachten desselben anziehend zu machen: denn hier ist andererseits doch alles noch so original, daß Sitten und Trachten zueinander gehren und sich ergänzen. Von dieser Zeit wird nun auf jeden Einfluß auf die bildende Kunst verzichtet, welche endlich gänzlich in die Domäne der Kunstmodehändler, als Quincaillerie und Tapezierarbeit -- fast wie in den ersten Anfängen der Künste bei nomadischen Völkern -- übergegangen ist. Der Mode stellt sich bei dem steten Bedürfnisse nach Neuheit, da sie selbst nie etwas wirklich Neues produzieren kann, der Wechsel der Extreme als einzige Auskunft zu Gebote: wirklich ist es diese Tendenz, an welche unsere sonderbar beratenen bildenden Künstler endlich anknüpfen, um auch edle, natürlich nicht von ihnen erfundene Formen der Kunst wieder zum Vorschein zu bringen. Jetzt wechseln Antike und Rokoko, Gotik und Renaissance unter sich ab, die Fabriken liefern Laokoongruppen, chinesisches Porzellan, kopierte Raffaele und Murillos, hetrurische Vasen, mittelalterliche Teppichgewebe, dazu Meubles a la Pompadour, Stukkaturen a la Louis XIV., der Architekt schließt das Ganze in Florentinischen Stil ein und stellt eine Ariadnegruppe darauf.

Nun wird die "moderne" Kunst ein neues Prinzip auch für den Ästhetiker: das Originelle derselben ist ihre gänzliche Originalitätslosigkeit, und ihr unermeßlicher Gewinn besteht in dem Umsatz aller Kunststile, welche nun der gemeinsten Wahrnehmung kenntlich und nach beliebigem Geschmack für jeden verwendbar geworden sind. -- Aber auch ein neues Humanitätsprinzip wird ihr zuerkannt, nämlich die Demokratisierung des Kunstgeschmackes. Es heißt da: man solle aus dieser Erscheinung für die Volksbildung Hoffnung schöpfen, denn nun seien die Kunst und ihre Erzeugnisse nicht mehr bloß für den Genuß der bevorzugten Klassen vorhanden, sondern der geringste Bürger habe jetzt Gelegenheit, die edelsten Typen der Kunst sich auf seinem Kamine vor die Augen zu stellen, was selbst dem Bettler am Schaufenster der Kunstläden noch möglich falle. Jedenfalls solle man damit zufrieden sein, denn wie, da nun einmal alles untereinander vor uns daliege, selbst dem begabtesten Kopfe noch die Erfindung eines neuen Kunststiles für Bildnerei wie für Literatur ankommen könnte, das müsse doch geradezu unbegreiflich bleiben. --

Wir dürfen diesem Urteile nun vollkommen beistimmen, denn es liegt hier ein Ergebnis der Geschichte von derselben Konsequenz, wie das unserer Zivilisation überhaupt, vor. Es wäre denkbar, da diese Konsequenzen sich abstumpften, nämlich im Untergange unserer Zivilisation, was ungefähr anzunehmen wäre, wenn alle Geschichte über den Haufen geworfen würde, wie dies etwa in den Konsequenzen des sozialen Kommunismus liegen müßte, wenn dieser sich der modernen Welt im Sinne einer praktischen Religion bemächtigen sollte. Jedenfalls stehen wir mit unserer Zivilisation am Ende aller wahren Produktivität im Betreff der plastischen Form derselben und tun schließlich wohl, uns daran zu gewöhnen, auf diesem Gebiete, auf welchem die antike Welt uns als unerreichbares Vorbild dasteht, nichts diesem Vorbilde Ähnliches mehr zu erwarten, dagegen wir uns mit diesem sonderbaren, manchem ja sogar sehr anerkennungswert dünkenden Ergebnisse der modernen Zivilisation vielleicht zu begnügen haben, und zwar mit demselben Bewußtsein, mit welchem wir jetzt die Ausstellung einer neuen deutschen Kleidermode für uns, und namentlich unsere Frauen, als einen vergeblichen Reaktionsversuch gegen den Geist unserer Zivilisation erkennen müssen.

Denn soweit unser Auge streift, beherrscht uns die Mode. --

Aber neben dieser Welt der Mode ist uns eben gleichzeitig eine andere Welt erstanden. Wie unter der römischen Universalzivilisation das Christentum hervortrat, so bricht jetzt aus dem Chaos der modernen Zivilisation die Musik hervor. Beide sagen aus: "Unser Reich ist nicht von dieser Welt." Das heißt eben: wir kommen von innen, ihr von außen, wir entstammen dem Wesen, ihr dem Schein der Dinge.

Erfahre jeder an sich, wie die ganze moderne Erscheinungswelt, welche ihn überall zu seiner Verzweiflung undurchbrechbar einschließt, plötzlich in nichts vor ihm verschwindet, sobald ihm nur die ersten Takte einer jener göttlichen Symphonien ertönen. Wie wäre es möglich, in einem heutigen Konzertsaale (in welchem Turkos und Zuaven sich allerdings behaglich fühlen würden!) nur mit einiger Andacht dieser Musik zu lauschen, wenn unserer optischen Wahrnehmung, wie wir dieses Phänomen schon oben berührten, die sichtbare Umgebung nicht verschwände? Dies ist nun aber, im ernstesten Sinne aufgefaßt, die gleiche Wirkung der Musik unserer ganzen modernen Zivilisation gegenüber, die Musik hebt sie auf, wie das Tageslicht den Lampenschein. --

Es ist schwer, sich deutlich vorzustellen, in welcher Art die Musik von je ihre besondere Macht der Erscheinungswelt gegenüber äußerte. Uns muß es dünken, daß die Musik der Hellenen die Welt der Erscheinung selbst innig durchdrang und mit den Gesetzen ihrer Wahrnehmbarkeit sich verschmolz. Die Zahlen des Pythagoras sind gewiß nur aus der Musik lebendig zu verstehen, nach den Gesetzen der Eurythmie baute der Architekt, nach denen der Harmonie erfaßte der Bildner die menschliche Gestalt, die Regeln der Melodik machten den Dichter zum Sänger, und aus dem Chorgesange projizierte sich das Drama auf die Bühne. Wir sehen überall das innere, nur aus dem Geiste der Musik zu verstehende Gesetz das äußere, die Welt der Anschaulichkeit ordnende Gesetz bestimmen: den echt antiken dorischen Staat, welchen Platon aus der Philosophie für den Begriff festzuhalten versuchte, ja die Kriegsordnung, die Schlacht, leiteten die Gesetze der Musik mit der gleichen Sicherheit wie den Tanz. -- Aber das Paradies ging verloren: der Urquell der Bewegung einer Welt versiegte. Diese bewegte sich, wie die Kugel auf den erhaltenen Stoß, im Wirbel der Radienschwingung, doch in ihr bewegte sich keine treibende Seele mehr, und so mute auch die Bewegung endlich erlahmen, bis die Weltseele neu wieder erweckt wurde.

Der Geist des Christentums war es, der die Seele der Musik neu wieder belebte. Sie verklärte das Auge des italienischen Malers und begeisterte seine Sehkraft, den in der Kirche andererseits verkommenden Geist des Christentums zu dringen. Diese großen Maler waren fast alle Musiker, und der Geist der Musik ist es, der und beim Versenken in den Anblick ihrer Heiligen und Märtyrer vergessen läßt, daß wir hier sehen. -- Doch es kam die Herrschaft der Mode; wie der Geist der Kirche der künstlichen Zucht der Jesuiten verfiel, so ward mit der Bildnerei auch die Musik zur seelenlosen Künstelei. Wir verfolgten nun an unserem großen Beethoven den wundervollen Prozeß der Emanzipation all des Materiales, welches herrliche Vorgänger mühevoll dem Einflusse dieser Mode entzogen hatten, der Melodie ihren ewig gültigen Typus, der Musik selbst ihre unsterbliche Seele wiedergegeben habe. Mit der nur ihm eigenen göttlichen Naivität drückt unser Meister seinem Siege auch den Stempel des vollen Bewußtseins, mit welchem er ihn errungen, auf. In dem Gedichte Schillers, welches er seinem wunderbaren Schlußsatze der neunten Symphonie unterlegt, erkannte er vor allem die Freude der von der Herrschaft der "Mode" befreiten Natur. Betrachten wir die merkwürdige Auffassung, welche er den Worten des Dichters:

"Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt"

 

gibt. Wie wir dies bereits fanden, legte Beethoven die Worte der Melodie eben nur als Gesangstext in dem Sinne eines allgemeinen Zusammenstimmens des Charakters der Dichtung mit dem Geiste dieser Melodie unter. Das, was man unter richtiger Deklamation, namentlich im dramatischen Sinne, zu verstehen pflegt, läßt er hierbei fast gänzlich unbeachtet: so läßt er auch jenen Vers "was die Mode streng geteilt" bei der Absingung der ersten drei Strophen des Gedichtes ohne jede besondere Hervorhebung der Worte an uns vorübergehen. Dann aber, nach unerhörter Steigerung der dithyrambischen Begeisterung, faßt er endlich auch die Worte dieses Verses mit vollem dramatischen Affekte auf, und als er sie in einem fast wütend drohenden Unisono wiederholen läßt, ist ihm das Wort "streng" für seinen zürnenden Ausdruck nicht genügend. Merkwürdig, da dieses maßvollere Epitheton für die Aktion der Mode sich auch nur einer späteren Abschwächung von seiten des Dichters verdankt, welcher in der ersten Ausgabe seines Liedes an die Freude noch hatte drucken lassen:

"Was der Mode Schwert geteilt!"

 

dieses "Schwert" schien nun Beethoven wieder nicht das Richtige zu sagen, es kam ihm, der Mode zugeteilt, zu edel und heroisch vor. So setzte er denn aus eigener Machtvollkommenheit "frech" hin, und nun singen wir:

"Was die Mode frech geteilt" -- 

(*In der übrigens so verdankenswerten Härtelschen Gesamtausgabe der Beethovenschen werke ist von einem Mitgliede des an einem anderen Orte von mir charakterisierten musikalischen "Mäßigkeitsvereines", welches die "Kritik" dieser Ausgabe besorgte, auf S. 260 u.f. der Partitur der neunten Symphonie dieser so sprechende Zug vertilgt und für das "frech" der Schottschen Originalausgabe das wohlanständige, sittig-mäßige "streng" eigenmächtig hingestellt worden. Ein Zufall entdeckte mir soeben diese Fälschung, die, wenn wir über ihre Motive nachdenken, wohl geeignet ist, uns mit schauerlichen Ahnungen über das Schicksal der Werke unseres großen Beethoven zu erfüllen, wenn wir sie für alle Zeiten einer in diesem Sinne progressiv sich ausbildenden Kritik verfallen sehen müßten. --)

Kann etwas sprechender sein, als dieser merkwürdige, bis zur Leidenschaftlichkeit heftige künstlerische Vorgang? Wir glauben Luther in seinem Zorne gegen den Papst vor uns zu sehen! --

Gewiß darf es uns erscheinen, daß unsere Zivilisation, soweit sie namentlich auch den künstlerischen Menschen bestimmt, nur aus dem Geiste unserer Musik, der Musik, welche Beethoven aus den Banden der Mode befreite, neu beseelt werden könne. Und die Aufgabe, in diesem Sinne der vielleicht hierdurch sich gestaltenden neuen, seelenvolleren Zivilisation die sie durchdringende neue Religion zuzuführen, kann ersichtlich nur dem deutschen Geiste beschieden sein, den wir selbst erst richtig verstehen lernen, wenn wir jede ihm zugeschriebene falsche Tendenz fahren lassen.

Wie schwer nun aber die richtige Selbsterkenntnis namentlich für eine ganze Nation ist, erfahren wir jetzt zu unserem wahren Schrecken an unserem bisher so mächtigen Nachbarvolke der Franzosen, und wir mögen daraus eine ernste Veranlassung zur eigenen Selbsterforschung nehmen, wofür wir uns glücklicherweise nur den ernsten Bemühungen unserer großen deutschen Dichter anzuschließen haben, deren Grundstreben, bewußt wie unbewußt, diese Selbsterforschung war.

Es mußte diesen fraglich dünken, wie das so unbeholfen und scherfällig sich gestaltende deutsche Wesen neben der so sicher und leicht bewegten Form unserer Nachbarn romanischer Herkunft einigermaßen vorteilhaft sich behaupten sollte. Da andererseits dem deutschen Geiste ein unleugbarer Vorzug in der ihm eigenen Tiefe und Innigkeit des Erfassens der Welt und ihrer Erscheinungen zuzuerkennen war, frug es sich immer, wie dieser Vorzug zu einer glücklichen Ausbildung des Nationalcharakters, und von hier aus zu einem günstigen Einflusse auf den Geist und den Charakter der Nachbarvölker anzuleiten wäre, während bisher, sehr ersichtlicherweise, Beeinflussungen dieser Art mehr schädlich als vorteilhaft von dorther auf uns gewirkt hatten.

Verstehen wir nun die beiden durch das Leben unseres größten Dichters gleich Hauptadern sich durchziehenden poetischen Grundentwürfe richtig, so erhalten wir hieraus die vorzüglichste Anleitung zur Beurteilung des Problems, welches sofort beim Antritt seiner unvergleichlichen Dichterlaufbahn diesem freiesten deutschen Menschen sich darstellte. --

Wir wissen, daß die Konzeption des "faust" und des "Wilhelm Meister" ganz in die gleiche Zeit des ersten übervollen Erblühens des Goetheschen Dichtergenius fällt. Die tiefe Inbrunst des in erfüllenden Gedankens drängte ihn zunächst zu der Ausführung der ersten Anfänge des "Faust": wie vor dem Übermaße der eigenen Konzeption erschreckt, wendete er sich von dem gewaltigen Vorhaben zu der beruhigenderen Form der Auffassung des Problems im "Wilhelm Meister". In der Reife des Mannesalters führte er diesen leicht fließenden Roman auch aus. Sein Held ist der sichere und gefällige Form sich suchende deutsche Bürgersohn, der über das Theater hinweg, durch die adelige Gesellschaft dahin, einem nützlichen Weltbürgertume zugeführt wird, ihm ist ein Genius beigegeben, den er nur oberflächlich versteht, ungefähr so, wie Goethe damals die Musik verstand, wird von Wilhelm Meister "Mignon" erkannt. Der Dichter läßt unsere Empfindung es deutlich innewerden, daß an "Mignon" ein empörendes Verbrechen begangen wird, seinen Helden jedoch geleitet er über die gleiche Empfindung hinweg, um ihn in einer von aller Heftigkeit und tragischen Exzentrizität befreiten Sphäre einer schönen Bildung zugeführt zu wissen. Er läßt ihn in einer Galerie sich Bilder besehen. Zu Mignons Tode wird Musik gemacht, und Robert Schumann hat diese später wirklich komponiert. -- Es scheint, daß Schiller von dem letzten Buche des "Wilhelm Meister" empört war, doch wußte er wohl dem großen Freunde aus seiner seltsamen Verirrung nicht zu helfen, besonders da er anzunehmen hatte, Goethe, der eben doch Mignon gedichtet und uns eine wunderbar neue Welt mit dieser Schöpfung in das Leben gerufen hatte, müßte in seinem tiefsten Inneren einer Zerstreuung verfallen sein, aus welcher es dem Freunde nicht gegeben war, ihn zu erwecken. Nur Goethe selbst konnte sich aus ihr erwecken, -- und er erwachte; denn im höchsten Alter vollendete er seinen "Faust". Was ihn je zerstreute, faßt er hier in ein Urbild aller Schönheit zusammen: Helena selbst, das ganze, volle antike Ideal beschwörte er aus dem Schattenreich herauf und vermählt sie seinem Faust. Aber der Schatten ist nicht festzubannen, er verflüchtigt sich zum davonschwebenden schönen Gewölk, dem Faust in sinniger, doch schmerzloser Wehmut nachblickt. Nur Gretchen konnte ihn erlösen: aus der Welt der Seligen reicht die früh Geopferte, unbeachtet in seinem tiefsten Inneren ewig innig Fortlebende, ihm die Hand. Und dürfen wir, wie wir im Laufe unserer Untersuchung die analogischen Gleichnisse aus der Philosophie und Physiologie herangezogen, jetzt auch dem tiefsten Dichterwerke eine Deutung für uns zu geben versuchen, so verstehen wir unter dem: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis" -- den Geist der bildenden Kunst, der Goethe so lange und vorzüglich nachstrebte, unter dem: "Das ewig Weibliche zieht uns hinan" aber den Geist der Musik, der aus des Dichters tiefstem Bewußtsein sich emporschwang, nun über ihm schwebt uns ihn den Weg der Erlösung geleitet. --

Und diesen Weg aus tiefinnerstem Erlebnis hat der deutsche Geist sein Volk zu führen, wenn er die Völker beglücken soll, wie er berufen ist. Verspotte uns, wer will, wenn wir diese unermeßliche Bedeutung der deutschen Musik beilegen, wir lassen uns dadurch so wenig irremachen, als das deutsche Volk sich beirren ließ, da seine Feinde auf einen wohl berechneten Zweifel an seiner einmütigen Tüchtigkeit hin es beleidigen zu dürfen vermeinten. Auch dies wußte unser großer Dichter, als er nach einer Tröstung dafür suchte, daß ihm die Deutschen so läppisch und nichtig in ihren aus schlechter Nachahmung entsprungenen Manieren und Gebarungen erscheint, sie heißt: "Der Deutsche ist tapfer." Und das ist etwas!--

Sei das deutsche Volk nun auch tapfer im Frieden, hege es seinen wahren Wert und werfe es den falschen Schein von sich: möge es nie für etwas gelten wollen, was es nicht ist, und dagegen das in sich erkennen, worin es einzig ist. Ihm ist das Gefällige versagt, dafür ist sein wahrhaftes Dichten und Tun innig und erhaben. Und nichts kann sich den Siegen seiner Tapferkeit in diesem wundervollen Jahre 1870 erhebender zur Seite stellen, als das Andenken an unseren großen Beethoven, der nun vor hundert Jahren dem deutschen Volke geboren wurde. Dort, wo hin jetzt unsere Waffen dringen, an dem Ursitze der "frechen Mode" hatte sein Genius schon die edelste Eroberung begonnen: was dort unsere Denker, unsere Dichter, nur mühsam übertragen, unklar, wie mit unverständlichem Laute berührten, das hatte die Beethovensche Symphonie schon im tiefsten Inneren erregt: die neue Religion, die welterlösende Verkündigung der erhabensten Unschuld war dort schon verstanden, wie bei uns.

So feiern wir denn den großen Bahnbrecher in der Wildnis des entarteten Paradieses! Aber feiern wir ihn würdig, -- nicht minder würdig als die Siege deutscher Tapferkeit: denn dem Weltbeglücker gehört der Rang noch vor dem Welteroberer!